Wenn Kinder Opfer von Gewalt werden, lassen die Verletzungen oft genaue Rückschlüsse auf das Geschehen zu. Foto: Björn Locke

Woran Rechtsmediziner erkennen, ob Betroffene einen Unfall hatten oder Opfer von Gewalt wurden. Vor Gericht kann das entscheidend sein.

Stuttgart - Was genau Forensiker an Verletzungen ablesen können, schildert der Rechtsmediziner Marcel Verhoff vom Universitätsklinikum Frankfurt am Main. Seit 2013 ist Verhoff Direktor des Instituts. Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Tätigkeitsind die Täteridentifizierung durch forensische DNA-Analysen und die Bestimmung der Leichenliegezeit.

Auch wenn er und seine Kollegen nicht immer wissen, ob es sich bei einer Verletzung um die Folge eines Unfalls, um Fremdbeibringung oder Selbstbeibringung handelt, so nähern sie sich dieser Frage durch die Verletzungsanalyse zumindest an. Oft genügt es, vor Gericht zudem bestimmte Szenarien auszuschließen. Ein Beispiel: Eine Frau sagt aus, ihr Mann habe sie mit einem Stock geschlagen. Der Angeklagte behauptet jedoch, sie sei die Treppe hinuntergefallen. Was sagen die Verletzungen?

„In beiden Fällen kommt es zu sogenannten doppelt konturierten streifigen Hämatomen, die immer dann entstehen, wenn der menschliche Körper mit Schwung auf eine Kante fällt oder mit einem stabförmigen Gegenstand geschlagen wird“, sagt Verhoff.

Wann ist das Treppensturz-Szenario realistisch?

Um die Treppensturzversion zu stützen, müsste die Frau dann allerdings horizontal parallel verlaufende Hämatome aufweisen, die denselben Abstand haben – nämlich jenen der Treppenstufen. In Kombination mit den Ergebnissen der Spurensicherung könnte somit recht schnell geklärt werden, ob das Treppensturz-Szenario realistisch ist oder ausgeschlossen werden kann. Es geht stets darum, die häusliche Situation so gut es geht zu rekonstruieren.

Ein weiteres Beispiel: Verbrühungen. Die Staatsanwaltschaft wirft einer Mutter vor, ihr Kind absichtlich verbrüht zu haben. Diese wiederum behauptet, dem Kind sei der Wasserkocher selbst aus der Hand gerutscht.

„Weist das Kind zusätzlich Verbrühungen an den Außenseiten der Unterarme oder den Händen auf, könnte das darauf hinweisen, dass es einen Angriff kommen sehen hat und die Arme oder Hände schützend vor das Gesicht gehalten hat“, sagt Verhoff. Zu derartigen Verletzungen komme es oft, wenn Gewalt in der Familie auf der Tagesordnung stehe, die Opfer darauf vorbereitet seien und sich wappneten.

Stauungsblutungen in den Augen

Auch bei Verletzungen an der Rückseite der Beine von Kindern, am Rücken und an den Wangen klingelten bei ihm und seinen Kollegen die Alarmglocken. Nicht selten deuteten diese auf Fremdbeibringung hin. Denn: Typische Stürze von Kindern, die beim Spielen entstünden, beträfen meist Knie und Handinnenflächen – also eher die Körpervorderseite.

„Es geht immer um das Gesamtverletzungsbild“, erklärt der Rechtsmediziner. So kann ein Angeklagter durch Spermaspuren, die ein Abstrich zutage gebracht hat, allein nicht zwangsläufig überführt werden – es könnte sich schließlich um einvernehmlichen Sex gehandelt haben. Weist das Opfer jedoch zusätzlich Schürfwunden, Hämatome an den Oberschenkelinnenseiten, den Schulterblättern und den Beckenknochen auf, kann dies ein Hinweis sein, dass das Opfer gewaltsam zu Boden gedrückt wurde. Ebenso können Hämatome am Hals in Kombination mit punktförmigen Stauungsblutungen in den Augen auf Würgemale hindeuten.

Wenige Verletzungen lassen nur eine Lesart zu

Nur wenige Verletzungen lassen nur eine Lesart zu. „Bisswunden beispielsweise sind recht eindeutig“, sagt der Rechtsmediziner. Auch Stichwunden könne man sehr gut als solche erkennen, aber auch dann sei noch nicht klar, ob es sich um Fremd- oder Selbstbeibringung handelt.

Bei stumpfer Gewalteinwirkung hingegen werde es noch schwieriger. Hier komme es zu Hautrötungen, Schwellungen, Hämatomen bis hin zu Knochenbrüchen oder Organverletzungen. Und wie diese zustande gekommen seien, sei selten eindeutig belegbar. Die Vielzahl der Deutungsmöglichkeiten zeigt, dass ein professionelles Dokumentieren von Verletzungen unabdingbar ist, wenn es vor Gericht standhalten soll.