Welche Konsequenzen hat die Randale in der Innenstadt am Wochenende? Foto: dpa/Simon Adomat

Das Randale-Phänomen in der Stuttgarter Innenstadt ist nicht neu – vor Jahren hatten Polizei und Mobile Jugendarbeit sogar ein wirksames Rezept.

Stuttgart - Barfuß, mit Fußfesseln und Spuckschutzhaube stapft ein junger Mann durch den Innenhof des Amtsgerichts am Neckartor. Es ist einer von neun Beschuldigten, die nach den Ausschreitungen und Plünderungen am Wochenende in der Innenstadt von Polizisten zum Haftrichter gebracht werden. Die Vorwürfe lauten auf schweren Landfriedensbruch, gefährliche Körperverletzung, tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte, Diebstahl im besonders schweren Fall.

Der älteste der Beschuldigten ist 33. Der jüngste ist gerade einmal 16. Ihm wird sogar versuchter Totschlag vorgeworfen – nach einer Szene, die bisher wenig bekannt war: Der Jugendliche soll einem am Boden liegenden Studenten gegen den Kopf getreten haben. Der hatte den randalierenden Mob offenbar beschimpft – und war daraufhin von einer Gruppe zusammengeschlagen worden. Der 16-Jährige soll mit seinem Tritt einen „möglichen Tod des Opfers zumindest billigend in Kauf genommen haben“, so der Staatsanwalt Heiner Römhild.

Die Geschichte der Randale reicht weit zurück

Eine Eskalation der Gewalt in der City – wieder einmal. Diesmal waren es nicht die Duelle von rechten Skinheads gegen Multikultis, die 1991 Wochenende für Wochenende ein sogenanntes Bullenjogging in der Stadt provozierten und sogar SEK-Einsätze nötig machten. Diesmal waren es auch keine blutigen Streitigkeiten von Straßenbanden mit Messern oder Schusswaffen, wie jene vor einigen Monaten am Josef-Hirn-Platz. Diesmal eskalierte es in der sogenannten Eventszene.

Es ist der ganze Querschnitt junger Menschen, der sich in der City trifft – vom Studenten bis zum Asylbewerber. Die 25 Beschuldigten, die am Wochenende nach der Randale festgenommen wurden, sind ähnlich kunterbunt. Die 16 bis 33 Jahre alten Tatverdächtigen haben einen deutschen, kroatischen, irakischen, portugiesischen oder lettischen Pass.

Eine Vorgeschichte gab es schon im September

Der Hexenkessel brodelt schon lange. Immer wieder an Wochenenden kommt es zu brisanten Situationen. Am 29. September vergangenen Jahres etwa wurde am Eckensee ein 18-Jähriger mit einem Messerstich verletzt – und als die Polizei anrückte, pöbelten umstehende Gaffer-Gruppen gegen die Beamten. Am Samstag explodierte das Pulverfass am Eckensee vollends – als ein 17-jähriger Ludwigsburger um 22.40 Uhr wegen eines Marihuanatütchens von der Polizei kontrolliert wurde.

Eine Straßenschlacht mit demolierten Streifenwagen und Schaufenstern und geplünderten Geschäften hat es in Stuttgart noch nicht gegeben – wohl aber Ausschreitungen in der nächtlichen Eventszene. Die Stadt kennt das Phänomen seit über zehn Jahren – und hätte vorbereitet sein können.

Das Konzept jedenfalls liegt unbeachtet in der Schublade. Seit sechs Jahren staubt das Projekt „City Streetwork Stuttgart“ vor sich hin, das die Stadt vor Szenen wie diesen bewahren sollte. Der Gemeinderat aber wollte sich im Dezember 2013 die erforderlichen 195 000 Euro sparen – obwohl die Kooperation von Polizei und Mobiler Jugendarbeit die Spannungen in der Eventszene in der Innenstadt bis dahin erfolgreich befriedet hatte. Rächt sich das jetzt?

Wer feiern will, will nicht reden?

Das Klientel ist seit über zehn Jahren etwa gleich geblieben. Damals warnte die Polizei vor Jugendgewalt und Alkoholexzessen, die sich vorwiegend am Berliner Platz, aber auch auf der Partymeile Theodor-Heuss-Straße oder am Schlossplatz abspielten. Im Mai 2012 startete ein Projekt, das als bundesweites Vorbild gepriesen wurde: Polizei und Mobile Jugendarbeit von Evangelischer Gesellschaft, Caritas, Jugendhaus und Drogenberatungsstelle Release arbeiteten zusammen. Streetworker mischten sich unters junge Event-Volk. „Ich war sehr skeptisch“, erinnert sich Klausjürgen Mauch von der Mobilen Jugendarbeit, „wer feiern will, will keinen Sozialarbeiter sprechen.“ Doch es war anders. Die jungen Leute wollten sprechen. Auch die, „die es nicht leicht haben und es anderen nicht leicht machen“, so Mauch. Konflikte konnten bereinigt werden.

Stuttgarter Jugendliche sind in der Mehrheit

Es gab auch Erkenntnisse darüber, wo die Leute herkamen. Stuttgarter waren in der Mehrheit. „Freitags kamen 46 Prozent aus der Region, samstags waren es 22 Prozent“, sagt Gabriele Stumpp von der Universität Tübingen, die das Projekt begleitet hat. Zwei Drittel der Befragten hatten Streit mit anderen Cliquen erlebt, 57 Prozent Streit untereinander. 48 Prozent waren keine Schüler mehr, 19 Prozent Gymnasiasten, 14 Prozent Realschüler, sieben Prozent Haupt- und Werkrealschüler.

Doch der Erfolg bedeutete das Ende. Für die Fortsetzung 2014 gab die Stadt kein Geld mehr. „Es wäre vermessen zu sagen, dass mit dem Projekt die Randale nicht passiert wäre“, sagt Mauch. „aber dass Prävention wirkt, haben wir bewiesen.“