Radfahren soll in Stuttgart ein Vergnügen werden, wünscht sich die Stadt. Wir haben einen Praxistest gemacht. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Diskutieren Sie mit! Radfahren soll in Stuttgart ein Vergnügen werden, wünscht sich die Stadt. Doch bis dahin ist es noch ein gutes Stück Arbeit. Wir haben den Praxistest gemacht und einen Leser auf seinem Arbeitsweg vom Stuttgarter Osten nach Mitte begleitet.

Stuttgart - In Stuttgart ist aktuell der mittlerweile dritte Feinstaubalarm ausgerufen. Die Behörden fordern Bürger und Pendler immer eindringlicher auf, das Auto stehen zu lassen, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen oder auf das Fahrrad umzusteigen. Schließlich muss der Feinstaubpegel irgendwie runter. Dafür soll Radfahren auch in der Landeshauptstadt zum Vergnügen werden, wie Baubürgermeister Peter Pätzold kürzlich beim Radforum im Rathaus verlauten ließ. Doch wie praktikabel ist der Umstieg aufs Velo als Autoersatz überhaupt? Wo gibt es Stolperfallen? Wie verhält sich der Restverkehr gegenüber den Radfahrern?

Wir haben es am eigenen Leib getestet – gemeinsam mit Leser Martin Speiser (51). Speiser ist engagierter Radfahrer und lud zwei Redakteure der Stuttgarter Nachrichten ein, mit ihm gemeinsam den Arbeitsweg abzuradeln, den er seit zweieinhalb Jahren fährt, um die Bemühungen der Stadtverwaltung um eine Verbesserung des Radverkehrs im Alltag unter die Lupe zu nehmen.

Erste Herausforderung nach wenigen Hundert Metern

Stuttgart-Wangen, 9 Uhr morgens. Strahlender Sonnenschein, knackige zwei Grad Außentemperatur. Wir sind dick eingepackt und der nicht Rad fahrende Autor wurde von Speiser sogar noch mit Pedelec, Anhänger und GPS-Tracker ausgestattet. Los geht´s Richtung Innenstadt. Speiser ist Software-Entwickler bei der Stuttgarter Börse und radelt die meiste Zeit des Jahres zur Arbeit. Wenn einer weiß worauf es ankommt, dann er. Etwas mehr als sieben Kilometer beträgt der Arbeitsweg. Schon nach wenigen Hundert Metern wartet die erste Herausforderung. An der U-Bahn-Haltestelle Wangener-/Landhausstraße gilt es eine scharfe 60-Grad-Kehre auf engstem Raum zu meistern, bevor man an einer Fußgängerampel – ohne Haltegriffe für Radler – warten muss, ehe man die gefährlichen Stadtbahnschienen überqueren kann.

Es geht steil bergauf Richtung Gaisburg. Vor der gleichnamigen Stadtbahnhaltestelle ein Kuriosum: Ein bestens markierter Radstreifen auf der Fahrbahn vor einer Schule, der nur für knappe 150 Meter existiert. „Den hat die Stadt da doch nur hingemacht, um den Verkehr zu beruhigen“, mutmaßt unser Guide, bevor wir uns mitten auf den Schienen irgendwie an der Haltestelle vorbeimogeln. Generell sind die Radstreifen auf den Straßen laut Speiser suboptimal: „Sie sind so knapp bemessen, dass Autos nur wenige Zentimeter an einem vorbeirauschen. Dann lieber ohne Markierung, da halten Autos tendenziell mehr Abstand zum Radfahrer.“

Über Gaisburg und den Ostendplatz nach Mitte

Hinunter geht es Richtung Talstraße, dann nähern wir uns über den Ostendplatz so langsam dem Bezirk Mitte. Überall werden wir mit unübersichtlicher Streckenführung und von rücksichtslosen Autofahrern, vollgeparkten Straßenecken oder Radwegen konfrontiert. Ordnungsamt-Mitarbeiter auf Knöllchenstreife? Fehlanzeige! Ebenfalls auffällig: Missverständliche Beschilderungen, gänzlich fehlende Randstreifen für Radfahrer, Straßenüberquerungen, die auf der einen Seite für Radfahrer freigegeben, ab der Straßenmitte aber plötzlich reine Fußgängerüberwege sind. Konsequenterweise müsste man hier absteigen. Dazu nicht abgesenkte Bordsteinkanten, knöcheltiefe Schlaglöcher, buckelige Kopfsteinpflaster. Das alles sahen wir übrigens auf großen Teilen der „Hauptradroute 2“, die Stuttgart-Ost, Wangen und Hedelfingen mit der Stadtmitte verbinden soll.

Doch es gibt auch etwas Positives zu vermelden: So rücksichtlos die Autofahrer sich beim Parken verhalten, so rücksichtsvoll sind sie beim Passieren des Rad fahrenden Trios. Es wird nicht gedrängelt, keine abfälligen Gesten werden registriert und der Abstand zum Velo beim Überholvorgang eingehalten. Immer wieder ist gar ein wohlwollendes Schmunzeln festzustellen. Ob aufgrund unseres leicht abenteuerlich anmutenden Gespanns aus Tourenrad, Liege-Trike und Pedelec mit Anhänger – oder ob der Tatsache, dass wenigstens drei Mitbürger den Feinstaubalarm zum Anlass nehmen, umzusteigen, vermögen wir nicht zu sagen.

Über den Charlottenplatz und die Planie Richtung Börse

Auch bei der für ungeübte Radfahrer abenteuerlich und schlicht monströs anmutenden Riesen-Kreuzung am Charlottenplatz bekommen wir einen positiven Eindruck. Vorbildliche Ampelschaltung, mehrere Fahrstreifen inklusive Cityring/B27 können zügig überquert werden, über die Planie bis vor zum kleinen Schlossplatz weist ein Fahrradstreifen den Weg. Über die Bolzstraße geht es hoch zur Theo-Heuss. Die Überquerung gestaltet sich schwierig, wieder fehlen Haltegriffe für die Radler und die Ampelschaltung macht es allen – Autofahrern, Fußgängern und Radfahrern – nicht einfach. Auch die „Dooring-Zone“ entlang der an Wochenenden gern von PS-Protzen aus dem Umland genutzten „Theo“ birgt jede Menge Risiken. An Radfahren ist hier eigentlich kaum zu denken, zu groß sind die Gefahren für alle Verkehrsteilnehmer. Immerhin können wir danach ohne weitere Probleme die Börse erreichen: Geschafft!

Fazit: Es gibt noch einiges zu tun für die Stadt

Nach kurzer Pause und Videodreh für Stuggi.TV geht es zurück durch die Innenstadt und den Schlossgarten in den Stuttgarter Osten. Zeit, ein Fazit zu ziehen. Das von Pätzold angekündigte Aktionspaket für die Radler in und um die Landeshauptstadt ist sicher richtig und wichtig. Doch bevor man den 2,9 Millionen Euro schweren Radverkehrsetat für die geplanten Hauptradrouten, Downhill-Strecken, Fahrrad-Service-Stationen und Sonstiges verpulvert, muss man im Kleinen anfangen. Beschilderungen verbessern, Park-Rowdies konsequent abstrafen, die Verkehrsführung an vielen Punkten deutlich fahrradfreundlicher gestalten – und durch klare Kommunikation die Akzeptanz aller Verkehrsteilnehmer für den Radfahrer an sich verbessern. Dann könnte es etwas werden mit dem „Schöner radeln in Stuttgart“ und mehr Menschen würden sich dann wohl auch aufs Fahrrad setzen.

Informationen zu unserer Tour und dem Radverkehr in Stuttgart

Ein Stunde und sieben Minuten betrug die reine Fahrzeit auf unserer Tour – 15,88 Kilometer haben wir abgespult. Die höchste Geschwindigkeit erreichten wir mit 33,2 km/h in Gaisburg, durchschnittlich waren wir mit 14,2 km/h unterwegs. Insgesamt 282 Höhenmeter haben wir überwunden und dabei 399 Kalorien verbrannt.

Der Radverkehrsetat der Stadt ist seit 2005 (385 000 Euro) bis heute um über 2,5 Millionen Euro gewachsen. Der Radverkehr im Kessel nimmt tendenziell zu. Die beiden Fahrrad-Dauerzählstellen, also beim Mineralbad Leuze im Nordosten wie an der Böblinger Straße/Waldeck im Südwesten, weisen Steigerungen auf. Der Zuwachs am Waldeck um 14 000 auf 223 000 Radler bedeutet ein Plus von 6,7 Prozent. Am Leuze ging’s um 17,8 Prozent auf 808 000 Radfahrer nach oben.

In jüngster Vergangenheit erfolgten einige Verbesserungen für Radfahrer. So etwa die Unterbrechung des Autoverkehrs in der Tübinger-/Feinstraße, im Schlossgarten gibt es den Verbindungsweg Platanenallee zur Haltestelle Mineralbäder und weiter ins Neckartal, Schutzstreifen und die direkte Radführung am Berliner Platz, die Verbreiterung des Neckartal-Radwegs an den Seilerwasen in Cannstatt, die neue Brücke über dem Mahdental.

Der nächste Radaktionstag findet am Samstag, 11. Juni, statt. Wer Interesse an der Mitarbeit im Radforum hat, kann sich an folgende E-Mail-Adresse wenden: claus.koehnlein@stuttgart.de.