Die prächtige Dorfkirche geht auf das Jahr 1562 zurück. Foto: Thomas Krämer

Die Filder sind im Umbruch. Die früheren Bauerndörfer wandeln sich fast schon in kleine Städte. In einer Serie beleuchten wir die Entwicklung einzelner Quartiere. Diesmal: Musberg.

Leinfelden-Echterdingen - Musberg? „Eine Armutsgemeinde vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert.“ Stadtarchivar Bernd Klagholz nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er die einstige Situation in dem heutigen Stadtteil von Leinfelden-Echterdingen beschreibt. 1853 musste die Gemeinde sogar Zahlungsunfähigkeit erklären. Der Grund war, dass der Boden nicht so fruchtbar ist wie in anderen Filderorten. Nicht umsonst steht neben der Kirche ein Denkmal, das Besenbinder zeigt. Mit dem Reisig aus den umgebenden Wäldern konnten sich die Menschen einen Teil ihres Lebensunterhalts verdienen. „Noch nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich mein Vater damit einen Zuverdienst geschaffen“, sagt Horst Elsässer, ein Musberger Original.

Bomben zerstörten 80 Prozent des Ortes

„Heute ist Musberg der attraktivste und teuerste Stadtteil in unserer Kommune, wenn es ums Wohnen geht.“ Was Roland Klenk, der Oberbürgermeister von Leinfelden-Echterdingen, beschreibt, ist eine Entwicklung, die sich in gerade mal zwei Generationen vollzogen hat. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg sind viele Menschen aus dem Stuttgarter Kessel hinauf nach Musberg gezogen. Ins Grüne. Dorthin, wo lauschige Wälder stehen, wo der Reichenbach durch das Siebenmühlental rauscht und die Sonne das ganze Jahr auf den Südhang strahlt und Wärme und Licht spendet. Es kamen vor allem Menschen, die den Pfennig nicht zweimal umdrehen mussten, bevor sie ihn ausgaben. Das Beispiel Musberg zeigt, wie schnell sich Dinge ändern können, wenn die Rahmenbedingungen wechseln. Das gilt auch für den Zweiten Weltkrieg, als zwei Bombenangriffe über Nacht achtzig Prozent des Ortes in Schutt und Asche legten und erst Mitte der 1950er Jahre die letzten Baracken abgebaut werden. Die prächtige Dorfkirche, deren Ursprünge auf das Jahr 1562 zurückgehen, überstand den Angriff mit vergleichsweise geringen Schäden, wurde renoviert und präsentiert sich heute als prächtiges Ensemble.

Musberg ist in mancherlei Hinsicht ein Exot unter den vier Stadtteilen der Kommune. Der Ort wurde 1928 an das Eisenbahnnetz angeschlossen. Nun kamen Einwohner besser in die Umgebung, die sich schon etwa ab 1870 als Handwerker verdingten, auf den Bau gingen und in kleinem Maßstab landwirtschaftliche Produkte verkauften.

Da gab es schon längst den von Arbeitern gegründeten Turnverein (1895), den Liederkranz und dann auch den Sozialdemokratischen Ortsverein. 1931 wurden die Kommunisten bei der Gemeinderatswahl sogar die stärkste Fraktion, Musberg als „Klein-Moskau“ bezeichnet. Die Freizeit war zwar rar, sollte aber sinnvoll genutzt werden.

1995 wurde der Skilift am Piz Mus eingestellt

Wenn Klenk, Elsässer und Klagholz das rege Vereinsleben und den Zusammenhalt im Ort loben, muss man all das im Hinterkopf haben. Denn während in umliegenden Bauerndörfern – auch unter dem Einfluss des Pietismus – unablässige Arbeit das Ziel eines gottgefälligen Lebens war, sang und turnte man im Ort. Das gipfelte im wahren Wortsinne am Piz Mus, dem Skigebiet auf den Fildern. „Da sind schon vor 100 Jahren die Kinder auf Fassdauben den Hang hinuntergerutscht“, sagt Elsässer. Damals habe man im Winter noch einen halben Meter Schnee gehabt. 1955 kam sogar eine hölzerne Sprungschanze hinzu, die im Jahr 1963 modernisiert worden ist. Deren Stahlgerüst dient heute als Hochsitz. Sogar ein Skilift wurde gebaut. „Der war allerdings 1995 zum letzten Mal in Betrieb“, erinnert sich Horst Elsässer – es fehlte in den vergangenen Jahren der Schnee. Und wo anders könnte Fasching so prächtig gefeiert werden als – im überwiegend protestantischen – Musberg.

„Das Engagement zeigt, wie sehr sich die Menschen mit ihrem Wohnort identifizieren“, fasst Klagholz das Vereinsleben zusammen, das sich mit der Dorfgemeinschaft Musberg ein Dach geschaffen hat. Und auch die Kultur hat ihren Platz. Das pittoreske alte Rathaus ist heute eine Galerie, die vom Kulturkreis Leinfelden-Echterdingen bespielt wird. Dazu kommt der Aktivspielplatz im Reichenbachtal, der wie ein Symbol für die Verbindung von Stadt und Natur steht.

Neue Flachdächer verdrängen die alten Satteldächer

Während rundherum die Welt immer schneller zu kreisen scheint, immer mehr Menschen immer mehr Platz, immer mehr Straßen und immer mehr Arbeitsplätze benötigen, kuschelt sich Musberg an den Nordhang des Reichenbachtals und scheint nur bedingt neugierig auf das zu blicken, was in der östlich gelegenen Nachbarschaft passiert. „Sogar der Maibaum wird noch von Hand aufgestellt“, sagt Klenk und sieht das als Zeichen für eine Tradition, die von den Bürgern bewahrt wird.

Was nicht heißt, dass sich in Musberg nichts verändert. Aber es ist angesichts beispielsweise der Verkehrsprobleme doch eine andere Größenordnung, wenn Elsässer beklagt: „Unser Dialekt wird leider immer seltener gesprochen“. Und auch die Art der Bebauung würde sich verändern. „Man fühlt sich manchmal wie in Griechenland“, sagt er angesichts neuer weißer Gebäude, die nicht mehr wie früher Satteldächer, sondern Flachdächer haben. Trotz des Zuzugs – auch durch Flüchtlinge – hat Klenk den Eindruck, dass die Neubürger gut integriert worden sind. Das bestätigt Horst Elsässer am Beispiel des italienischen Kultur- und Freizeitvereins Circolo Culturale. „Das sind mittlerweile Ur-Musberger, nur mit dem Dialekt klappt es noch nicht so“, sagt der gebürtige Musberger schmunzelnd.

Größere Veränderungen? Sind in Musberg nicht geplant. Während woanders ganze Ortskerne saniert werden sollen, wird in Musberg als großes, rund zehn Millionen teures Projekt der Abriss und Neubau der Turn- und Festhalle gewertet. „Sie besitzt eine große Bedeutung und ist Treffpunkt der Bürgerschaft“, sagt Klenk. Sogar in das Restaurant wird investiert – immerhin ist hier die einzige Speisegaststätte des Ortes. Und sonst? Eine Gewerbeentwicklung ist nach Worten Klenks nicht vorgesehen. Der etwas abgelegene Ort war ohnehin nie ein bedeutender Wirtschaftsstandort. „Wir haben hier wenige, aber bekannte Firmen“, sagt Klenk.

Nur im Norden entlang der Büsnauer Straße sollen neue Wohnhäuser entstehen. Im Süden – genau da, wo lauschige Wälder stehen, Mühlen am rauschenden Bach klappern, da soll alles beim Alten bleiben. Irgendwo müssen sich die Menschen ja auch erholen können – auch wenn ab und an ein Flugzeug darüberschwebt und den Wanderern verdeutlicht, dass der Stuttgarter Ballungsraum nicht fern ist.