Mitten im Idyll von Green Bank steht das größte bewegliche Radioteleskop der Welt. Foto: AP

Kein Internet, kein Radio, keine Handys: In West Virginia befindet sich das größte Funkloch der USA. Die staatlich verordnete „stille Zone“ entwickelt sich zu einem Zufluchtsort für alle, die abschalten wollen.

Greenbank - Irgendwo im Wald, auf der State Route 28, endet die Zivilisation. Das Handy-Display blinkt warnend auf, weil kein Netz mehr verfügbar ist. Im Radio nur noch Rauschen. Auf Rasenmähern, die so groß wie Traktoren sind, sitzen Männer im Rentenalter. Sie tragen Schirmmützen, Holzfällerhemden, Jeans und Turnschuhe. Hillbillies nennen sie solche Menschen in Amerika: Hinterwäldler. In den Hügeln von West Virginia leben besonders viele Hillbillies. Einst der Stolz der amerikanischen Kohleindustrie, ist der Bundesstaat heute größtenteils verarmt. Straßen bröckeln, Fabriken schließen, Häuser vergammeln. Vor allem junge Leute hält hier nichts. Dabei wäre das touristische Potenzial eigentlich riesig. Doch die wichtigste Attraktion wird bisher gar nicht beworben: Stille. Die Rede ist von der „National Radio Quiet Zone“, einem staatlich verordneten Funkloch von der Größe Nordrhein-Westfalens.

Wer die Quiet Zone betritt, schaltet das Handy am besten aus. Es funktioniert sowieso nicht. Auch drahtloses Internet ist tabu. Im Radio empfängt man nur einen einzigen Sender: WVMR, den Sound der Berge. Verantwortlich für das Funkloch ist das Green Bank Telescope (GBT) im gleichnamigen Örtchen. Es ist das größte bewegliche Teleskop der Welt: 148 Meter hoch, fast doppelt so hoch wie die Freiheitsstatue. Das GBT ist eine staatliche Einrichtung, die sich mit dem Urknall befasst, mit Photonen und der Möglichkeit außerirdischen Lebens. Um ins All zu horchen, braucht das GBT vor allem Ruhe. Funkwellen von Handymasten oder drahtlosen Netzwerken würden die Messungen stören. Daher das Funkloch.

Immer mehr wollen dem Online-Wahn entfliehen

Die stille Zone existiert seit 1958. Als Reiseziel gewinnt sie aber erst seit wenigen Jahren an Bedeutung, weil es immer mehr Menschen gibt, die dem täglichen Online-Wahn entfliehen möchten. So wie Diane Schou. Die Rentnerin zog vor neun Jahren nach Green Bank. „Ich wollte dem Elektrosmog entfliehen“, sagt sie. „In meiner Heimat Iowa hatte ich Kopfschmerzen, Bluthochdruck und Stiche in der Brust. Alles Symptome, die in meinem Alter gefährlich werden können.“ Wie alt sie ist, verrät Schou nicht, wahrscheinlich Mitte 60. Einen Satz wiederholt sie dafür gleich mehrfach: „Ich bin nicht verrückt. Und es gibt immer mehr von uns.“

Uns – gemeint sind Menschen, die unter Elektrosmog leiden. Schou hat für sie eine „Rettungsstation“ aufgebaut: einen Campingplatz, ausgestattet mit Holzhütten, Grillstelle und Dixi-Klo. Fließendes Wasser gibt es nicht, auch keinen Strom. „Für viele ist die Umstellung erst mal ein Schock“, erzählt Schou. Die meisten „Flüchtlinge“ kämen aus den Metropolen, manchmal sogar aus Europa. Doch die „Flüchtlinge“ bleiben nie lange. Sie gönnen sich eine kurze Auszeit in Green Bank und fahren danach wieder nach Hause, um ihre E-Mails zu checken.

Im Dorf reagieren die Einwohner gemischt auf die ältere Dame und ihre Besucher. Die einen mögen sie, weil sie frischen Wind in die 150-Seelen-Gemeinde bringen. Die anderen verdrehen genervt die Augen, wenn sie an Begegnungen mit den Neubürgern denken. Weil diese in der Kirche aufstehen und den Pfarrer bitten, das Funk-Mikrofon auszuschalten. Oder den Tankwart beknien, die schädlichen Neonröhren doch endlich mal wegzuwerfen. All das verursache schließlich Strahlung.

Zuflucht vor staatlicher Überwachung

„Manche von denen sind schon ein wenig durchgeknallt“, sagt Sherry Chestnut. Die 53-Jährige arbeitet bei Trent’s General Store, einer Mischung aus Tante-Emma-Laden, Tankstelle und Baumarkt. „Die meisten halten es hier nicht lange aus. Die hängen zu sehr an ihren Geräten.“ Und was ist mit den Einheimischen? „Mich stört das Funkloch überhaupt nicht.“ Auch ihre Kollegin Debbie vermisst nichts. „Ich bin in Washington aufgewachsen und vor fünf Jahren hergekommen“, sagt die 25-Jährige. „Wenn ich mit Freunden rede, sind die erst mal schockiert. Kein WLAN, kein Smartphone – wie soll das gehen?“ Ein Facebook-Profil hat sie trotzdem. „Aber das checke ich einmal am Tag – abends, am PC.“

Das Leben in der Quiet Zone ist auch sonst von Entbehrungen geprägt: eine Gegend, in der man Shoppingmalls und Multiplex-Kinos bestenfalls aus dem Fernsehen kennt und der Sheriff eine halbe Stunde zum Einsatzort braucht. Doch das abgeschiedene Leben hat auch Vorteile. Selbst die NSA würde sich an der stillen Zone die Zähne ausbeißen. In der Krimiserie „Person of Interest“ flieht eine Frau nach Green Bank, um der staatlichen Überwachung zu entkommen. Verräterische Handy-Signale, angezapfte Webcams, Armbänder mit GPS-Sensor – all das gibt es in der Zone.

Am Nachmittag bricht ein Unwetter über West Virginia herein. Nach einem Blitzschlag ist auch noch der Fernseher tot, der letzte Draht zur Außenwelt. Ein Grund zum Verzweifeln? Nicht hier. Im Fiddlehead, der Stammkneipe von Green Bank, greifen die Einwohner zum Karaoke-Mikrofon. Der Gesang ist scheußlich, doch das stört hier niemanden. Warum auch? Im Internet wird das Spektakel ja so schnell nicht landen.