Die Psychiatrie in Weinsberg steht im Mittelpunkt des Interesses. Foto: dpa/Julian Buchner

Nach dem Ausbruch von fünf Straftätern aus der Psychiatrie in Weinsberg hat sich ein Ausschuss damit beschäftigt. Sozialminister Lucha fordert eine Änderung des Strafgesetzbuches.

STUTTGART - Es gehört zu den Grundlagen der Demokratie, dass vom Parlament aufgearbeitet wird, wenn die Regierung vermeintlich einen Fehler gemacht hat. Dass innerhalb von weniger als einem Monat insgesamt fünf Straftäter aus der Psychiatrie in Weinsberg entkommen sind, ist dazu geeignet, den Verdacht eines fehlerhaften Konzeptes zu begründen. Der Ausschuss für Soziales und Integration hat sich daher am Montag zu einer Sondersitzung zusammen gefunden. Vor allem zwei Mediziner haben dafür gesorgt, dass einige Unklarheiten in einem anderen Licht erscheinen.

Was war geschehen?

Am 22. September flüchteten vier Männer aus der geschlossenen Anstalt. Es handelt sich überwiegend um schwer kriminelle und drogenabhängige Täter, die rechtskräftig verurteilt worden sind und nun zu einer Therapie in der Klinik waren. Bei dreien von ihnen stand die Therapie vor dem Abbruch. Inzwischen wurden drei Männer in Portugal gefasst. Bei einem weiteren Abgang handelt es sich nicht um einen Ausbruch. Der Patient ist nicht von einem erlaubten Ausgang zurückgekehrt. Fachleute reden daher von einer „Entweichung“. Der Mann befindet sich noch auf der Flucht.

Was bedeutet Maßregelvollzug?

Die im Maßregelvollzug untergebrachten Straftäter sind suchtkranke oder psychisch kranke Patienten. Obwohl auch Einrichtungen des Maßregelvollzugs gesichert sind, steht die Therapie im Vordergrund, nicht die Sicherung. Ähnlich wie im Strafvollzug gibt es verschiedene Lockerungsschritte, wenn die Behandlung Erfolge zeitigt.

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Gab es Fehler bei der Lockerung?

„Lockerungen sind kein Bedürfnis der Kliniken, sondern unterliegen rechtlichen Vorgaben“, sagt Udo Frank. Der Sprecher der Facharbeitsgruppe Maßregelvollzug der Kliniken für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie in Baden-Württemberg, erklärte den Ausschussmitgliedern die Details. Beim ersten Lockerungsschritt werde der Patient in Begleitung in den streng geschützten Sicherungsbereich der Klinik gelassen, im letzten Schritt dürfe er das Gebäude für eine bestimmte Zeit alleine verlassen. „Es gibt Lockerungsstufen in acht bis zwölf Schritten, zum Teil mit Unterschritten“, sagt Frank. „Ohne Lockerungen geht es nicht“, sagt auch Matthias Michel. Der Ärztliche Direktor in Weinsberg erklärt, dass „alternative Verhaltensweisen“ nur in der Realität erprobt werden könnten – und dass die vier Ausbrecher nicht im Gespräch für Lockerungen waren.

Wie häufig sind Ausbrüche und Entweichungen?

Seit Inbetriebnahme der Weinsberger Klinik im Jahr 2006 habe es von dort keinen Ausbruch gegeben, sagt Sozialminister Manfred Lucha. In diesem Jahr sei es landesweit zu 46 Entweichungen gekommen, oft sei dies nur ein kurzes Überschreiten der Ausgangszeit. Dies müsse man im Verhältnis von mehr als 200 000 Lockerungsmaßnahmen sehen. Ein „verschwindend geringer Wert“, so Lucha.

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Gab es Fehler bei der Kommunikation?

Man habe unmittelbar sowohl die Polizei als auch den Bürgermeister von Weinsberg benachrichtigt, sagt Matthias Michel. Die Polizei habe dann darum gebeten, zunächst nicht die Öffentlichkeit zu informieren. Dass verschiedene Pressemitteilungen im Nachgang sprachlich umformuliert wurden, sehen die Experten in der komplexen juristischen Terminologie begründet. So müsse ein Straftäter zum Beispiel schuldfähig sein, um auch als Straftäter benannt zu werden. Ansonsten sei der Begriff Rechtsbrecher angebracht.

Wo liegt das Hauptproblem?

Experten, der Minister und Vertreter der Parteien sehen den § 64 des Strafgesetzbuches als reformbedürftig an. Er regelt die Einweisung von Straftätern in den Maßregelvollzug, sei aber in vielen Bereichen beliebig auslegbar. Lucha erklärte, er habe sich bei der Bundesjustizministerin für eine Reform eingesetzt. „In diesem Bereich erweisen sich 50 Prozent der gerichtlichen Entscheidungen als nicht zutreffend“, sagt Udo Frank. Er kenne keinen anderen Bereich im Leben mit solch einer verheerenden Quote.

Braucht es mehr Therapieplätze?

Zweifelsfrei Ja. Derzeit gibt es im Land rund 1200 Plätze, bis zum Jahresende sollen 75 weitere hinzukommen.

Warum wird über Heidelberg gestritten?

Sozialminister Manfred Lucha hatte angekündigt zu prüfen, ob das ehemalige Heidelberger Gefängnis „Fauler Pelz“ genutzt werden könne. Das hat Unmut bei Wissenschaftsministerin Theresia Bauer ausgelöst, die eine Erweiterung der Uni plant. Nach einem in den sozialen Medien ausgetragenen Schlagabtausch macht Lucha nun einen halben Rückzieher. Gedacht sei nur an eine Übergangsnutzung, keinesfalls wolle man in Konkurrenz zu Parteifreundin Bauer treten.