In der Tatnacht glichen die Straßen um das Stern-Einkaufszentrum einem Sperrgebiet. Foto: Horst Rudel

Ein Prozess um eine Schießerei endet so kurios, wie er begann. Der Verteidiger ist prominent. Auch der türkische Staatspräsident engagierte ihn.

Sindelfingen - Für den Angeklagten hat sich die Hartnäckigkeit gelohnt. Er ist ein freier Mann. Im dritten Urteil zum selben Fall beugte sich das Landgericht Stuttgart der höheren Instanz und entschied: Der 41-jährige Automechaniker hat zwar auf seinen Chef geschossen, aber nicht in der Absicht, ihn zu töten. Womit die Strafe von ursprünglich vier auf nunmehr zweieinhalb Jahre Haft sank, die bereits verbüßt sind. Damit endete ein Gerichtsverfahren so kurios wie es begann.

An die Tatnacht im November vor drei Jahren dürften Augenzeugen sich noch mühelos erinnern. Die Polizei war mit einem Großaufgebot ausgerückt. Die Straßen rund um das Stern-Einkaufszentrum, direkt am Sindelfinger Bahnhof gelegen, glichen einem Sperrgebiet. Die Beamten durchstreiften die Gegend auf der Suche nach einem Mann, der aus Schlagwunden im Gesicht blutete und mit einer Waffe durch die Straßen lief – brüllend und barfüßig. So hatten Zeugen es gemeldet.

Die Polizei hatte ihre Not zu klären, wer Täter und wer Opfer war

Die Polizei hatte ihre Not, im Verlauf der Nacht auch nur zu klären, wer Täter war und wer Opfer. Der Automechaniker hatte seinerseits seinen Chef angezeigt und noch im Prozess behauptet, nicht er habe die Waffe an den Tatort gebracht, sondern sein Chef. Es sei ihm nur gelungen, die scharf gemachte Schreckschusspistole an sich zu reißen. In Angst um sein Leben habe er gefeuert. Diese Version ließ sich nicht mit letzter Sicherheit wiederlegen, weil die Waffe nach der Tat verschwand. Wer sie entsorgt hatte und wohin, blieb ebenso unklar. Am Tatort waren noch mindestens ein Kollege des Angeklagten und sein Vermieter. Alle Beteiligten sind türkischer Herkunft und zumindest gute Bekannte.

Fest steht, dass dem Schuss ein Streit voranging, nach dem der Automechaniker mit gebrochener Nase zum Arzt musste. Außerdem fehlte ihm ein Zahn. Es ging wohl um Geld genauso wie um gekränkte Ehre. Der Schuss durchschlug die geschlossene Wohnungstür und hinterließ nur einen roten Fleck auf der Haut des Opfers. Bereits vom Holz gebremst, prallte die Kugel vom Boden ab und traf als Querschläger. Die Durchschlagskraft der Stahlkugel aus der umgebauten Schreckschusspistole war ohnehin gering. Der Angeschossene selbst hatte vor Gericht ausgesagt, es gehe doch nur um einen Kratzer . Er hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er ein Gerichtsverfahren für übertrieben hält.

Laut erstem Urteil verhinderte nur eine Ladehemmung Schlimmeres

Im ersten Urteil zum Fall hatte das Gericht unter dem Vorsitzenden Richter Jörg Geiger den Angeklagten noch wegen versuchten Totschlags verurteilt. Er habe seinen Chef töten wollen. Dieser Schluss fußte vor allem auf dem Verhalten nach dem Schuss. Offenbar auf der Suche nach seinem Chef hatte der Automechaniker mit der Waffe in der Hand die Straßen durchstreift. Nur eine Ladehemmung habe Schlimmeres verhindert. Weil er seinen Arbeitgeber nicht fand, rächte er sich an dessen Auto. Der Mercedes wurde schwer demoliert. Schon gegen diesen ersten Schuldspruch ging der Verteidiger Mustafa Kaplan erfolgreich in die Revision. Der Bundesgerichtshof zweifelte an der Tötungsabsicht und verwies den Fall zurück.

Das zweite Urteil fiel im August 2017, zwar noch immer wegen versuchten Totschlags, aber die Strafe verringerte sich auf dreieinhalb Jahre Haft. Die Begründung dafür erschöpft sich in juristischen Feinheiten. Kaplan hatte zwei Jahre zur Bewährung gefordert. Zu dieser Zeit war der Anwalt zu überraschender Prominenz gekommen. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hatte Kaplan beauftragt, ihn im Berufungsprozess um das Schmähgedicht des Satirikers Jan Böhmermann zu vertreten. Warum Erdogans Wahl auf einen Strafverteidiger aus Köln ohne zivil- oder medienrechtliche Erfahrung fiel, blieb sein Geheimnis.

Der Böhmermann-Prozess endete ohne Sieger. Anders als die zweite Revision: Wieder entschied der Bundesgerichtshof, die Absicht zu töten sei dem Automechaniker nicht nachzuweisen. Diesmal beugten sich Landgericht und Staatsanwaltschaft. Schon die Anklage lautete nicht mehr auf versuchten Totschlag, sondern auf gefährliche Körperverletzung. Hinzu kommt unerlaubter Waffenbesitz. Theoretisch hätte der Angeklagte sogar ein Recht auf Entschädigung, weil er bereits länger als die nun verhängten zweieinhalb Jahre in Haft war. Aber „das waren nur drei Tage“, sagt Kaplan, „auf einen Ausgleich dafür hat mein Mandant dann verzichtet“.