Die Mutter des missbrauchten Neunjährigen (Mitte) sei sehr fordernd aufgetreten, rechtfertige jetzt eine Richterin als Zeugin, warum sie den Jungen in seine Familie zurückgeschickt hat. Foto: dpa

Im Prozess um die Staufener Missbrauchsfälle rechtfertigen sich die Justiz und das Jugendamt dafür, dass sie dem neunjährigen Opfer nicht geholfen haben – obwohl sie eindeutige Hinweise hatten.

Freiburg - Das Jugendamt hat im Fall des jahrelang missbrauchten Jungen aus Staufen den ersten konkreten Hinweis aus dessen Schule auf einen sexuellen Übergriff offenbar nicht ernst genug genommen. Anfang Juni des vergangnen Jahres hatte die Lehrerin des heute Neunjährigen beim zuständigen Sachbearbeiter angerufen und erklärt, der Junge habe im Bus einem Mitschüler erzählt, er müsse sich für den Freund seiner Mutter nackt ausziehen. Wie detailliert die Schilderung war, ist unklar. Die Lehrerin hielt den Vorfall aber für sehr gravierend. Wenige Tage später erkundigte sich der Rektor der Schule beim Jugendamt, was sich in der Sache getan habe. Doch es hatte sich nichts getan, und auch später tat sich nichts.

„Der Hinweis ist uns sehr vage vorgekommen“, erklärte der Sozialarbeiter am Donnerstag im Prozess gegen die 48-jährige Mutter und ihren 39-jährigen Lebensgefährten, die den Jungen missbraucht und anderen Männern zum Missbrauch überlassen haben sollen. Schließlich sei die Geschichte „über drei Ecken“ an ihn herangetragen worden. Allerdings unternahm der Sachbearbeiter auch nichts, um zu einer direkteren Information zu kommen. Er habe sich die Telefonnummer der Familie des Schulfreundes aufgeschrieben, aber dann doch nicht angerufen.

Hinweis von Schule nicht weitergegeben

Auch an die Polizei und die Gerichte, die sich damals schon mit dem Jungen befassten, leitete er den Hinweis nicht weiter. Er sei damit der offiziellen Handlungsempfehlung für solche Fälle gefolgt. Man wolle damit vermeiden, dass die Opfer noch stärker unter Druck gerieten. Dennoch läuft bei der Staatsanwaltschaft ein Vorermittlungsverfahren gegen den Sozialarbeiter. Vor Gericht erschien er mit einem Anwalt als Zeugenbeistand.

Der Hinweis hätte möglicherweise einiges geändert. Im April 2017 hatte derselbe Sozialarbeiter noch entschlossen die Inobhutnahme des Buben angeordnet. Zuvor hatte die Polizei dem Jugendamt mitgeteilt, dass Christian L., ein einschlägig vorbestrafter Pädophiler, eine Beziehung zur Mutter des heute neunjährigen Buben aufgenommen hatte und möglicherweise sogar schon dort eingezogen war. Das Kind sei gefährdet, erklärte der Sozialarbeiter.

Mutter ist sehr forsch aufgetreten

Konkrete Hinweise auf Missbräuche gab es zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht. Auch deshalb entschied das Freiburger Familiengericht einen Monat später auf einen Antrag der Frau hin, dass der Bub unter strengen Auflagen in die Familie zurückkehren dürfe. Auch die damalige Richterin sagte am Donnerstag vor dem Freiburger Landgericht aus. Sichtlich schockiert schilderte sie, wie sie auf die Beteuerungen der Mutter hereingefallen sei.

Die Frau sei sehr fordernd und überzeugend aufgetreten: Sie kenne das Vorleben ihres Lebensgefährten und sei in der Lage ihren Sohn zu beschützen. Das Jugendamt reagiere übereifrig, weil es noch unter dem Eindruck des Falles Alessio stehe und viel zu schnell Kinder in Obhut nehme. „Tatsächlich deckte sich das ja auch mit unserer Einschätzung“, sagte die Richterin. Der dreijährige Alessio war vier Jahre zuvor von seinem Stiefvater totgeschlagen worden. Auch hier waren im Nachhinein schwere Vorwürfe gegen das Jugendamt des Kreises Breisgau-Hochschwarzwald laut geworden.

Richterin: Bub wollte zu Mutter zurück

Ihr sei daran gelegen gewesen, den Fall möglichst schnell im Einvernehmen mit der Familie und dem Jugendamt zu lösen, sagte die Richterin, zumal ihr die Frau als „liebende und kämpfende Mutter“ vorgekommen sei. Und auch der Bub wollte zu diesem Zeitpunkt offenbar dringend zurück. Er habe in der Pflegefamilie viel geweint und kaum etwas gegessen. Das sei ihr auch vom Jugendamt bestätigt worden.

Die Rückgabe des Kindes verknüpfte die Richterin allerdings an die Bedingung, dass Christian L. nicht mehr in die Wohnung kommen dürfe. Den Buben dürfe er nicht mehr sehen. Zudem sollte sich die Frau in eine psychologische Behandlung begeben und eine Familienhilfe als Unterstützung akzeptieren. Dem habe die Frau zugestimmt. Als zwei Wochen später – das Kind war wieder daheim – plötzlich ein Einspruch gegen ihre Entscheidung eingegangen sei, sei sie aus allen Wolken gefallen.

„Unter diesen Umständen hätte ich vor der Rückgabe ein Gutachten eingeholt, den Jungen selbst angehört und das streitig verhandelt“, sagte die Richterin. Das Oberlandesgericht (OLG) als Folgeinstanz tat all dies nicht, sondern lockerte die Auflagen. Auch dessen Vorsitzende Richterin soll noch vor Gericht aussagen. In Kenntnis des Hinweises aus der Schule hätte sie möglicherweise anders entschieden.