Ein Protest gegen die Haft von „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel. Foto: Rex Features

Seit dem Putschversuch in der Türkei vor einem Jahr ließ Erdogan per Dekret 149 Medien schließen und 274 Journalisten festnehmen. An diesem Montag beginnt in Istanbul das Verfahren gegen Mitarbeiter der Traditionszeitung „Cumhuriyet“.

Istanbul - Auf uns kommt ein schreckliches Unheil zu“, ahnt Ahmet Sik. Seit dem 29. Dezember vergangenen Jahres sitzt der 47-jährige türkische Journalist bereits in Untersuchungshaft. An diesem Montag steht er in Istanbul vor Gericht. Ahmet Sik ist einer von 17 Mitarbeitern und Verlagsmanagern der regierungskritischen Zeitung „Cumhuriyet“, denen jetzt der Prozess gemacht wird. Ihnen werden Verbindungen zu „Terrororganisationen“ wie etwa der Bewegung des Exil-Predigers Fethullah Gülen vorgeworfen, den der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan für den Drahtzieher des Putschversuchs vom 15. Juli 2016 hält.

Das Verfahren gilt als Prüfstein für die Unabhängigkeit der türkischen Justiz. Die Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft Istanbul umfasst 247 Seiten. Sie wirft den Beschuldigten vor, sie hätten die Meinungsfreiheit zu Propaganda für den Erdogan-Erzfeind Fethullah Gülen missbraucht, Unruhen provoziert, auf einen Umsturz hingearbeitet. Für die angeklagten Journalisten fordert Staatsanwältin Yasemin Baba bis zu 29 Jahre, für die Verlagsmanager bis zu 43 Jahre Haft. Die Angeklagten bestreiten die Vorwürfe. Sie fühlen sich als „politische Geiseln“, sagt Ahmet Siks Ehefrau Yonka. Die Anklage gegen Sik wirkt besonders bizarr. Der bekannteste Investigativ-Journalist der Türkei saß schon 2011 im Gefängnis, weil er die Machenschaften Gülens zur Unterwanderung des Staatsapparates aufgedeckt hatte – Gülen war damals noch ein Erdogan-Verbündeter. Jetzt wird ausgerechnet Sik vorgeworfen, er habe die Gülen-Bewegung unterstützt.

Erdogan will keine Einmischung aus dem Ausland

Einer der Beschuldigten wird nicht auf der Anklagebank sitzen: Can Dündar, der frühere „Cumhuriyet“-Chefredakteur. Er konnte im Juli 2016 nach Deutschland fliehen, lebt jetzt in Berlin. In der Türkei ist er zur Fahndung ausgeschrieben. Dündar glaubt nicht, dass sich Erdogan durch die Neuausrichtung der deutschen Türkeipolitik beeindrucken lässt. „Erdogan kümmert sich nicht mehr um Reaktionen von westlicher Seite“, sagte Can Dündar der Deutschen Presse-Agentur.

Angesichts der zahlreichen Konflikte mit der Türkei – zuletzt die Inhaftierung des deutschen Menschenrechtsaktivisten Peter Steudtner – hatte Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) am Donnerstag eine „Neuausrichtung“ der Politik gegenüber Ankara angekündigt. Erdogan sagte dazu am Sonntag, er verbitte sich die Kritik der Bundesregierung. „Niemand hat das Recht, sich in die inneren Angelegenheiten der Türkei einzumischen.“ Der türkische Staatschef verwies auf die „strategische Partnerschaft“ zwischen Deutschland und der Türkei und warnte: „Es sollten keinen Schritte unternommen werden, die diese Partnerschaft überschatten.“

Vor dem Hintergrund der jüngsten Eskalation in den deutsch-türkischen Beziehungen wird der „Cumhuriyet“-Prozess international besonders aufmerksam verfolgt. Die Zeitung stehe „symbolisch für den mutigen Einsatz der wenigen noch verbliebenen unabhängigen Medien in der Türkei“, sagt Christian Mihr, Geschäftsführer der Organisation Reporter ohne Grenzen. „Eine Verurteilung wäre ein verheerendes Signal und eine Schande für die türkische Justiz“, meint Mihr. Dass es überhaupt zu den Festnahmen der Redakteure und Verlagsmanager sowie zur Anklage kam, wirft ein grelles Schlaglicht auf den desolaten Zustand der Presse- und Meinungsfreiheit  sowie auf die schwierige Situation der politischen Gefangenen in der Türkei.

Pressefreiheit zunehmend in Gefahr

Seit dem Putschversuch vor einem Jahr ließ Erdogan per Dekret 149 Medien schließen und 274 Journalisten festnehmen. Davon sitzen aktuell nach Angaben der Organisation P24, einer „Plattform für unabhängigen Journalismus“, 165 in Haft – mehr als in jedem anderen Land der Erde. Unter ihnen sind der „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel, die deutsch-türkische Übersetzerin Mesale Tolu Corlu und seit vergangenem Dienstag der Menschenrechtler Peter Steudtner.

Das „Cumhuriyet“-Verfahren ist nur einer von mehreren Schauprozessen, mit denen Regierungskritiker in der Türkei zum Schweigen gebracht werden sollen. Am 20. Juni begann in Istanbul ein Strafverfahren gegen 17 Journalisten und Intellektuelle. Auch ihnen werden Verbindungen zur Gülen-Bewegung vorgeworfen. Zu den Angeklagten gehören der international bekannte Journalist Ahmet Altan und sein Bruder, der Wirtschaftsprofessor und Buchautor Mehmet Altan. Der Vorwurf: Die Brüder sollen in einer TV-Talkshow am Abend vor dem versuchten Coup „unterschwellige Botschaften“ an die Putschisten gesendet haben. Sie sitzen seit zehn Monaten in Untersuchungshaft.

Gegner von Erdogan werden verfolgt

Auf der Anklagebank sitzt auch die Moderatorin dieser Sendung, die 72-jährige Journalistin Nazli Ilicak. Sie arbeitete bis 2013 für die regierungsnahe Zeitung Sabah. Wegen regierungskritischer Artikel im Zusammenhang mit der Korruptionsaffäre Ende 2013 trennte sich die Zeitung von Ilicak. Zum Prozessbeginn sagte Ilicak vor Gericht: „Ich bin über 70 Jahre alt und habe mein Leben lang keine Verbindungen zu religiösen, noch weniger zu einer terroristischen Gruppe unterhalten.“ An die Richter gewandt fragte Ilicak: „Warum sollte ich wollen, dass Fethullah Gülen die Macht in der Türkei übernimmt? Ich verdanke meine Identität der säkularen Republik.“ Die Journalistin bekannte: „Ich bin eine Gegnerin von Erdogan – ist das ein Verbrechen?“

„Cumhuriyet“ gilt seit jeher als Sprachrohr der Kemalisten

Der Prozess soll am 19. September fortgesetzt werden. Die Angeklagten bleiben in Untersuchungshaft. Bei einem Schuldspruch droht ihnen lebenslange Haft. In der Anklageschrift gegen die „Cumhuriyet“-Mitarbeiter wird die Zeitung als eine Art Zentralorgan der Gülen-Bewegung hingestellt – ein absurder Vorwurf, denn das Blatt war seit jeher ein Sprachrohr der Kemalisten. Die sozialdemokratisch-national ausgerichtete „Cumhuriyet“ ist die älteste Tageszeitung der modernen Türkei. Das 1924 gegründete Blatt geht auf den Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk zurück und verteidigt dessen Prinzipien. Dazu gehört vor allem die Trennung von Staat und Religion.

Im September 2016 wurde das Blatt mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. „Cumhuriyet“ beweise, „dass die Stimme der Demokratie nicht zum Schweigen gebracht werden kann“, hieß es zur Begründung – eine Einschätzung, die inzwischen sehr optimistisch erscheint. In den 15 Erdogan-Jahren ist das Land in der Rangliste der Pressefreiheit um 57 Plätze auf Rang 155 von 180 Staaten abgestürzt.