Das Klinikum in Ludwigsburg. „Bückt euch, ihr Huren – ich geb’s euch“, soll ein Patient zu den Krankenhausmitarbeiterinnen gesagt haben. Foto: factum/Andreas Weise

Immer wieder kommt es in Krankenhäusern zu Gewaltdelikten – vor dem Landgericht wird jetzt ein besonders dramatischer Fall verhandelt. Ein Patient hat das Personal in Ludwigsburg mit dem Tode bedroht und angegriffen – aus nichtigem Anlass.

Marbach/Ludwigsburg - Sie hatten Todesangst – dabei wollten sie nur helfen, ihrer Arbeit nachgehen. Geistesgegenwärtig betätigten die Oberärztin und die Krankenschwester den Sicherheitsriegel und schlossen sich in ihrem Stationszimmer im Ludwigsburger Klinikum ein. Hilflos mussten sie dann mit ansehen, wie der Patient gegen die Tür schlug, mit Blut am Arm und einem Messer in der Hand. Es war eine Szene wie aus einem schlechten Hollywoodfilm, und die beiden Krankenhausmitarbeiterinnen schildern vor dem Heilbronner Landgericht eindrücklich, was sich an jenen Tag im Juni des vergangenen Jahres auf ihrer Station abspielte.

Immer häufiger berichten Ärzte, Sanitäter oder Pflegekräfte von gewaltsamen Attacken. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat vor einigen Monaten eine Statistik veröffentlicht, die besagt, dass es bundesweit in Arztpraxen täglich zu 75 gewalttätigen Vorfälle kommt. In Heilbronn wird nun ein besonders gravierender Fall verhandelt. Angeklagt ist ein 26-jähriger Mann aus Marbach, der nach einem kurzen Eingriff völlig ausgerastet ist und ein Messer gezogen hat. Schon zuvor war der Sohn libanesischer Eltern durch eine lange Reihe von Gewaltexzessen aufgefallen, insgesamt wirft die Staatsanwaltschaft ihm zehn Gewaltdelikte vor.

Mann ritzt sich selbst und bedroht dann das Personal

Im Fokus des jüngsten Verhandlungstags stehen die Vorfälle im Ludwigsburger Klinikum. Die Oberärztin und die Krankenschwester sind als Zeuginnen geladen – und ihre Aussage verdeutlicht, wie schnell die Situation damals eskalierte. Zunächst sei der Angeklagte noch freundlich-zugewandt gewesen. Die ersten Probleme habe es gegeben, als die vereinbarte Lungenspiegelung verschoben werden musste, weil der Patient entgegen der Absprache Kaffee getrunken hatte und somit nicht mehr nüchtern war.

Nach dem Eingriff sei der Patient im Aufwachraum verbal aggressiv geworden, als er zurück auf die Station sollte. „Er hat gerufen: Bückt euch, ihr Huren – ich geb’s euch, ihr Schlampen“, berichtet die Ärztin. Dabei habe er die Faust gehoben, gegen Türrahmen geschlagen und Gegenstände gegen den Fahrstuhl geschleudert.

Interview zu Gewalt in Krankenhäusern: „Viele Patienten wollen nicht warten“

Danach geriet die Situation vollends außer Kontrolle. In seiner Wut, so die Ärztin, habe der Mann ein Küchenmesser aus einer Schublade gezogen und sich in den Unterarm geritzt, bis er blutete. Schließlich habe er mit dem Messer vor ihr gestanden und gerufen: „Ich bringe euch alle um.“ Den Bewusstseinszustand des Patienten bezeichnet die erfahrene Medizinerin als „voll orientiert“. Er habe so gewirkt, als ob er wüsste, in welcher Situation er sich bewege. Suizidale Absichten seien nicht erkennbar gewesen: „Er hat an seinem Arm quer geritzt – dort, wo keine Arterien sind.“

Polizisten ziehen Schusswaffen

Der Schrecken sei ihr und ihren Kolleginnen durch Mark und Bein gefahren, sagt die Ärztin am Ende der Verhandlung zu den Richtern. Patienten hätten beim Personal einen hohen Kredit, ihr Team gehe oft an die Grenzen des Leistbaren „und darüber hinaus“. Doch man wolle abends gesund und wohlbehalten nach Hause zurückkehren. Eine auf der Station tätige Krankenschwester bestätigt die Angaben der Ärztin. „Es ist schon ein Trauma für sich“, sagt sie, als sie den Richtern zeigt, wie nah sich der Angeklagte ihr mit dem Messer genähert habe.

Wie ernst die Lage war, schildert auch ein zu Hilfe gerufener Polizist. „Er ist auf uns zugelaufen und hielt das Messer nach vorne gerichtet.“ Mit dem Vorhalten von Schusswaffen habe man ihn dazu gebracht, das Messer wegzuwerfen, wobei der Mann gerufen habe: „Erschießt mich!“ Dann habe man ihm Handschellen angelegt und ihn auf einem Bett fixiert. Später sagen andere Polizisten aus, dass der 26-Jährige sie mehrfach beleidigt und bespuckt habe, als man ihn in ein anderes Bett verlegen sollte.

Lesen Sie hier: Wegen Gewaltausbrüchen setzen große Kliniken auf Sicherheitskräfte

Dieser Fall reiht sich in eine lange Liste dramatischer Vorfälle ein. Im Jahr 2019 wurde ein renommierter Mediziner während eines Vortrags in einer Berliner Klinik erstochen. In Offenburg erstach 2018 ein Patient einen Arzt, 2016 erschoss in Berlin ein Rentner einen Kieferorthopäden. 2015 tötete ein 44-Jähriger in einer Saarbrücker Praxis seine Psychiaterin mit acht Schüssen, in Leinfelden-Echterdingen kam es 2012 zu einem Messerangriff auf einen Orthopäden. Der Grund des Streits: die lange Wartezeit.

Keine Arbeitserlaubnis, kein Aufenthaltsstatus und keine Ausbildung

Manche Notaufnahmen verfügen bereits über einen eigenen Wachschutz. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sprach Anfang 2019 von einem massiven Problem. Die Zahl der Übergriffe auf Ärzte und Pfleger sei in kürzester Zeit um mehr als die Hälfte gestiegen. Drei von vier Krankenhäusern beklagten Übergriffe in Notfallambulanzen. Oft handeln die Täter im Wahn – wie der 24-Jährige, der 2019 einem Mithäftling im Justizvollzugskrankenhaus Hohenasperg einen Löffel sechs Zentimeter tief ins Auge stach.

Auch der 26-Jährige aus Marbach leidet unter einer paranoiden Schizophrenie und einer Persönlichkeitsstörung – was ihn nach eigenen Angaben nicht davon abhält, täglich Drogen wie Marihuana und Opiate zu konsumieren. Der Mann ist ohne Arbeitserlaubnis, Aufenthaltsstatus und Ausbildung und glich offenbar einer tickenden Zeitbombe. Anfang 2019 soll er eine Bekannte in seiner Wohnung festgehalten, ihr mehrfach mit der Faust ins Gesicht geschlagen und sie gewürgt haben. Im Mai soll er grundlos einen Mann auf dem Parkdeck in der Ludwigsburger Solitudestraße angegriffen haben. Wenige Wochen später randalierte er im Marbacher Rathaus; auch bei diesem Vorfall attackierte er den Notarzt, einen Sanitäter und Polizisten. Auch im psychiatrischen Krankenhaus in Weinsberg hat er einen Oberarzt geschlagen. Als er im Juni im Ludwigsburger Klinikum operiert werden musste, kam es zu der Messerattacke.

Der Angeklagte hat sich vor Gericht bereits zu den Taten geäußert. Seine Erklärung: Er höre regelmäßig eine weibliche Stimme, die ihm befehle, sich oder anderen etwas anzutun. Für den Prozess sind insgesamt acht Verhandlungstermine angesetzt und 39 Zeugen geladen.