Seit Ende Januar versammelnt sich täglich Demonstranten, um gegen die Regierung zu protestieren. Foto: AP

Rumäniens junge Bürgerrechtsbewegung will Amtsmissbrauch und Korruption in der Regierung nicht mehr länger hinnehmen und versammelt sich seit Wochen zu Dauerprotesten. Doch die Gegensätze im geteilten Karpatenstaat sind groß – genauso wie die Beharrungskräfte.

Bukarest - Hart peitscht der Regen über den Asphalt. Klatschnasse Europa- und Landesflaggen baumeln schwer von den geschulterten Fahnenstangen. Trillerpfeifen, Vuvuzelas und Sprechchöre übertönen am Bukarester Siegesplatz den dröhnenden Verkehr. Ob Schnee, Regen oder Eis – bis auf den Tag seiner Hochzeit sei er seit drei Wochen an jedem Abend auf dem Platz gegenüber Rumäniens Regierungsgebäude gestanden, erzählt der Maschinenbauingenieur Claudiu. Energisch wischt sich der 31-Jährige die kalten Regentropfen von der Stirn. Viel zu vieles habe sich in seinem Land in die falsche Richtung entwickelt: „Genug ist genug. Es ist für das Land einfach Zeit, endlich die Spur zu wechseln.“ Klamm frösteln die Demonstranten in durchtränkten Jacken und Schuhen im eisigen Wind.

Obwohl sich am 20. Tag der Dauerproteste nur rund 3000 Demonstranten auf dem zugigen Platz versammelt haben, strahlt der rotbäckige Marian Petre hinter seiner verregneten Brille. Ob mit Hunderten, Tausenden oder Hunderttausenden von Gleichgesinnten – „aus Respekt vor dem Recht“ habe er noch keinen einzigen Protesttag verpasst, erzählt der 58-jährige Anwalt. Die Regierung wolle sich maßgeschneiderte Gesetze für ihre Bedürfnisse schaffen, die mit „dem Recht absolut nichts zu tun“ hätten: „Wir wollen nur eins – Demokratie. Der Bürgersinn ist erwacht. Dieses Land verändert sich. Es gibt keinen Weg mehr zurück in die alten Zeiten.“

Eine Stunde nach Ankündigung des Dekrets standen 10 000 Menschen auf dem Siegesplatz

Es gibt kein Podest und niemand hält Reden. „Rücktritt, Rücktritt“ und „Diebe, Diebe“, skandieren die Demonstranten stattdessen im vielstimmigen Chor. Er habe gerade seinen zweijährigen Sohn zu Bett gebracht, als er am 31. Januar gegen zehn Uhr abends von dem „hässlichen“ Dekret gehört habe, erzählt Matei unter seiner triefenden Anorakkapuze. Die Nachricht, dass sich Würdenträger selbst einen Straferlass bei Amtsmissbrauch mit einer Schadensumme von bis zu 45 000 Euro verschaffen wollten, ließ dem IT-Fachmann keine Ruhe: „Per Whatsapp nahm ich sofort Kontakt mit einer Gruppe von Freunden auf. Wir sagten, was zum Teufel tun die – und kamen sofort hierher.“ Von einer „unglaublichen Mobilisierungskapazität“ spricht der Politologie-Professor und Analyst Cristian Pirvulescu in seinem Büro: „Schon eine Stunde nach der Ankündigung des Dekrets standen 10 000 Menschen auf dem Siegesplatz – um elf Uhr abends.“

Bei den größten Demonstrationen seit dem Sturz des sozialistischen Diktators Ceausescu 1989 sind seit dem 31. Januar täglich landesweit bis zu 600 000 Menschen über die Straßen gezogen. Getragen werde die Bürgerrechtsbewegung von der jungen, städtischen Mittelklasse, die in den vergangenen Jahren mehrmals erfolgreich den Aufstand gegen Korruption und autoritäre Parteienwirtschaft geprobt habe, so Pirvulescu. Ob bei den Protesten gegen die Privatisierung des Gesundheitswesen 2012, bei dem 2013 erstrittenen Stopp des Projekts des Goldabbaus in Rosia Montana, bei der Protestwahl des deutschstämmigen Präsidenten Klaus Johannis 2014 oder bei dem nach der Brandkatastrophe im Bukarester Musikclub Colektiv erstrittenen Rücktritt des sozialdemokratischen Skandalpremiers Viktor Ponta: Mehrmals habe Rumäniens Zivilgesellschaft bewiesen, Entscheidungen und Regierungen kippen zu können: „Die Proteste sind nicht nur eine Reaktion gegen Korruption. Sie haben das Ziel, die Demokratie gegen autoritäre Tendenzen zu verteidigen.“

Die erste Runde im Machtkampf haben die Demonstranten gewonnen

„Rote Pest“, skandiert am Bukarester Siegesplatz ein heiserer Mann mit Megafon. Aber es sind nicht nur die regierenden Sozialdemokraten (PSD) und deren machtbewusster Chef Liviu Dragnea, an denen sich der Unmut der Demonstranten entzündet. Egal welcher Partei sie angehörten, den meisten Amtsträgern gehe es nur darum, ihre Macht und Mittel zu vermehren, ärgert sich der 41-jährige Angestellte Radu: „Doch die jungen Generationen haben genug von der Art, wie Politiker ihren Reibach machen und sich danach rein zu waschen versuchen.“ Auf rund 4000 Amtsträger aller Parteien beziffert Pirvulescu die Zahl der Würdenträger, gegen die die Sonderstaatsanwaltschaft DNA Ermittlungen wegen Korruption und Amtsmissbrauch eingeleitet hat. Tatsächlich müssen nicht nur korrupte Parteibarone der regierenden PSD, sondern auch viele Amtsträger der Opposition um ihre Freiheit fürchten. Ins Visier der DNA-Ermittler geriet vergangene Woche beispielsweise Nicolae Robu, der Bürgermeister von Temeswar (Timisoara) von den oppositionellen Nationalliberalen (PNL): Ihm wird vorgeworfen, 1000 einst nationalisierte Wohnungen illegal zum Dumpingpreis verscherbelt zu haben. Geschätzte Schadensumme für den Staat: 40 Millionen Euro.

Die erste Runde im Machtkampf mit der Regierung haben die Demonstranten zwar gewonnen. Doch trotz der Atempause und dem Nachlassen der Proteste bleiben die Gegensätze im geteilten Karpatenstaat ebenso groß wie die Beharrungskräfte der ins Visier der Justiz geratenen Parteibarone. Obwohl die Regierung das umstrittene Dekret vorläufig wieder kassiert habe, sei es noch keineswegs annulliert, warnt Radu: „Die lernen nichts. Sie werden es nun in anderer Form einzuführen versuchen. Aber solange das Dekret nicht ganz vom Tisch ist, werden wir hier weiter protestieren.“

Der deutschstämmige Präsident Johannis macht aus seiner Skepsis keinen Hehl

„Rücktritt, Rücktritt“, ertönt es auch vor der von Polizei abgesicherten Palastpforte nur vier Kilometer Luftlinie vom Siegesplatz entfernt. Doch der Adressat der allabendlichen Gegenproteste mehrerer Dutzend Rentner vor dem Präsidentenpalast Cotroceni ist hier nicht die Regierung, sondern der Staatschef. Der „Deutsche“ Klaus Johannis sei ein „Verräter“, ereifert sich eine Dame mit weißer Fellmütze. „Alle Macht kommt von uns – respektiert das Votum des Volkes“ prangt auf ihrem selbst gemalten Plakat. Tatsächlich macht der deutschstämmige Präsident aus seiner Skepsis gegenüber den Selbstbegnadigungsplänen der Regierung kein Hehl. Für März hat Johannis ein Referendum über die Zustimmung oder Ablehnung der Antikorruptions-Gesetzgebung erzwungen. Die Möglichkeit einer schwachen Beteiligung könnte sich als Risiko erweisen, sagt Pirvulescu: „Doch sollte die Wahlbeteiligung höher als bei den Parlamentswahlen liegen, kann der Präsident auf eine größere Legitimität als die Regierung verweisen.“

Ein fauliger Kanalisationsgeruch durchzieht die Eingangshalle in dem einst von Ceausescu errichteten „Haus des Volkes“, dem Parlamentspalast. Als „hässlich, monströs und dysfunktional“ umschreibt der Neu-Parlamentarier Calatin Drula seinen Arbeitsplatz. Im Parlament tummelten sich „nicht nur helle Leuchten, um es mal milde auszudrücken“, sagt der stoppelbärtige Abgeordnete der neuen Antikorruptionspartei USR: „Sie wollen die Zeit in Rumänien um 15 Jahre zurückdrehen, wo man für jeden krummen Deal mit Kontakten zum richtigen Schutzherrn keinerlei Verfolgung fürchten musste.“ Schon vor dem Antritt der von ihm ferngesteuerten Regierung habe der PSD-Chef Dragnea im Parlament „völlig machttrunken“ gewirkt, sagt Drula: „Und seinen Kater hat nun das ganze Land auszubaden.“

Die Rumänen sind nicht mehr „so gehorsam“ wie einst, sagt ein Demonstrant

Als „sogenannte Sozialisten“ bezeichnet Politologe Pirvulescu die PSD, die als „reine Kartellpartei“ vor allem für die Interessen lokaler Geschäfts- und Politclans streite. Ihre ländliche Wählerschaft halte sie mit nationalistischen Tönen und Verschwörungstheorien bei der Stange: „Es ist ein Konflikt zwischen der demokratisch orientierten, sehr mobilen Mittelklasse und einer Politkaste, die ihre Position zu verteidigen versucht.“

Unermüdlich prasselt der Regen auf die Schirme und Plastikplanen am Siegesplatz. Er habe viele Freunde, die vor vier Jahren nicht im Traum daran gedacht hätten, zu einer Demonstration zu gehen, und nun fast täglich auf dem Platz stünden, sagt Matei: „Rumänien hat sich geändert. Viele arbeiten in anderen Ländern und reisen viel mehr als früher. Sie sehen nun den Unterschied, wie das Leben in anderen Ländern organisiert ist und wo wir stehen.“ Seine Landsleute seien nicht mehr „so gehorsam“ wie einst: „ Wir akzeptieren nicht mehr jeden Mist von dieser oder anderen Parteien als etwas Unvermeidliches. Niemand will mehr zurück: Wir wollen europäische Werte und Lebensverhältnisse. Und das so schnell wie möglich.“