Weckt bei vielen traumatische Erinnerungen: Die Sporthalle. Foto: Unsplash

Legalisiertes Mobbing oder motivierter Schulsport? Die Debatte um Völkerball an deutschen Schulen löst hitzige Debatten aus. Ist das Spiel eine Einladung zur Ausgrenzung – oder sind wir alle zu verweichlicht? Ein Pro und Contra.

Stuttgart - „Die Botschaft des Spiels lautet: Es ist okay, andere zu verletzen“, sagt die kanadische Bildungsforscherin Joy Butler, die in einer Studie den Sportunterricht an Schulen untersucht hat – und löst damit eine Debatte über Schulsport und Mobbing aus.

Sollte Völkerball aus dem Sportunterricht verbannt werden? Zwei Redakteure haben sich zu einem Pro und Contra hinreißen lassen und hoffen inständig, dass sie nach der Lektüre des gegnerischen Textes noch befreundet sein werden.

Pro von Sascha Maier: Als ob Völkerball-Profis heute noch coole Kids wären

Ich war auch nie der Schnellste im Sport. Aber gemobbt wurde man zumindest an den Schulen, die ich besucht habe, deswegen nie. Warum jetzt eine kanadische Forscherin dafür plädiert, Völkerball aus dem Schulunterricht zu verbannen, weil die Disziplin mit Mobbing gleichzusetzen sei, kommt mir so vor, als würde man gesellschaftliche Missstände, die seit Jahrzehnten auf dem Rückzug sind, durch die Brille der Moderne betrachten.

Die Sozialstruktur an Schulen ist heute eine ganz andere als damals. Heute wollen wahrscheinlich mehr Schüler wie der Youtuber Rezo sein als der Stärkste auf dem Pausenhof. Vereinssportskanonen sind längst nicht mehr automatisch beliebt und an der Spitze der Hierarchien in Schulklassen. Auch der Phänotyp des Bullys, wie man ihn aus Highschool-Filmen kennt, stellt doch 2019 kein Ideal mehr für junge Leute dar.

Das soll nicht heißen, dass es kein Mobbing mehr gibt. Aber wie sich die Wertesysteme verschoben haben, sind auch die Mobbingopfer heute andere. Da kann es sein, dass der beste Völkerballspieler gehänselt wird, wenn er zum Beispiel Klamotten trägt, die nicht in die super-stylische Instagram-Optik passen. Dicke Oberarme sind wie dicke Autos: kein Kriterium mehr.

Um heute zu den coolen Kids zu gehören, die wahrscheinlich viel perfider mobben als die begabten Ballsportler einst, braucht es keine Höchstleistungen mehr im Sportunterricht. Damit, Völkerball zu verbieten, ist in Sachen Mobbing überhaupt nichts gewonnen.

Contra von Carina Kriebernig: Ein einsamer Kampf gegen die Schwächsten

Lust auf eine Runde Demütigung? Dann ist Völkerball genau das Richtige. Das Ziel des Spiels? Seine Aggressionen und sozialen Unzulänglichkeiten offen ausleben, die Schwachen vorführen – auf sie zielen und mit voller Wucht und minimalem Sportsgeist vom Platz katapultieren.

Wer noch nie gemobbt wurde, werfe den ersten Ball. Es beginnt schon beim Auswahlverfahren, das an Sozialdarwinismus und eine obszöne Gesellschaft erinnert, die von den Turnlehrern milde belächelt wird – es ist schließlich ein Spiel, bei dem sich die Lehrkraft gemütlich zurücklehnen kann. Lasset die Spiele beginnen: Im Rausch der Gewalt zählt kein Respekt, du bist nichts wert, wenn du schwach, langsam, träge oder sowieso unbeliebt bist und zu den letzten gehörst, die in ein Team gewählt werden. Der einzige Zusammenhalt, den dieser Sport befördert, ist Stark gegen Schwach, Gruppe gegen Opfer, bis nur noch ein Gewinner am Kampfplatz übrig bleibt.

Nun ja, so läuft eben die martialische Welt, könnte man argumentieren und die Turnlehrermentalität des Spätkapitalismus damit bekräftigen, dass Kinder so früh die Welt kennenlernen, die ihnen spätestens beim Ausfüllen ihres Linkedin-Profils und beim Kräftemessen im neoliberalen Networking-Wettbewerb mit voller Wucht begegnet. Die Stärkeren werden gefördert, die Schwachen können sehen wo sie bleiben.

Ob nun Bundesjugendspiele, Schwimmunterricht oder kriegerisches Abknallen – das strukturelle Problem des Aussortierens und der Demütigung liegt viel tiefer. Dieses rituelle Kriegsübungsspiel ist nicht mehr zeitgemäß, wenn man sich vor Augen führt, dass fast jeder sechste 15-Jährige in Deutschland Opfer von Mobbing wird. Hat die Klassengemeinschaft keinen Zusammenhalt, muss eben der Lehrer das Spiel leiten, damit alle daran Spaß haben können. Dann kann man später auch getrost Floskeln wie „Ich bin teamfähig“ ins Jobbörsen-Profil eintippen.