Fabien Engelmann, der Bürgermeister von Hayange, unterstützt die Front-National-Vorsitzende Marine Le Pen. Foto: AFP

Warum die Rechtspopulistin Marine Le Pen in der französischen Kleinstadt Hayange bei der Präsidentschaftswahl im April auf mehr als 50 Prozent der Stimmen hoffen darf.

Paris - H ayange ist praktisch tot.“ Françoise sagt das. Bitterkeit klingt aus ihren Worten, aber auch Erleichterung. Als ob vom bevorstehenden Ableben eines Schwerkranken die Rede wäre, dessen Tod auch Erlösung verheißt. Doch die pensionierte Büroangestellte spricht von ihrer Stadt, von Hayange, dem 16 000 Einwohner zählenden Ort im Norden Lothringens. Françoise selbst scheint von dem Niedergang ausgenommen. Die 77-Jährige ist voller Leben. Für den Gang in die Konditorei am Kirchplatz hat sie Lidschatten und Lippenstift aufgetragen. Mit ihrer Freundin Anita steht sie vor dem Kuchentresen.

Draußen sind die Zeichen des Verfalls offenkundig. Die Pizzeria Mezza Luna hat pleite gemacht, ein neuer Pächter wird gesucht. Die Fassade des Veranstaltungssaals ist mit Rußschlieren übersät. In der zum Saal hinaufführenden Freitreppe hat sich Grünspan eingenistet. Eine Immobilienagentur bietet Wohnungen zum Schleuderpreis feil: ein Dreizimmer-Appartement für 66 000 Euro, ein Zweizimmer-Appartement für 40 000. Am Horizont ragen rostbraune Ungetüme in die Höhe. Die scheinbar planlos aufgetürmten Tanks, Rohre, Stangen und Gitter sind Überbleibsel der Stahlproduktion, die es hier einst gab.

Sauberkeit, Sicherheit, Bürgernähe – das waren die Wahlversprechen des Bürgermeisters

Und doch mag man in den Abgesang auf Hayange nicht einstimmen. Die Ende 2011 vom Abzug des Stahlgiganten Arcelor Mittal und dem Erlöschen der letzten Hochöfen schwer getroffene Stadt hat landesweit Aufsehen erregende Lebenszeichen von sich gegeben. Hayange ist eine von rund einem Dutzend französischer Gemeinden, in denen bei den Kommunalwahlen 2014 die rechtspopulistischen Front National (FN) gewonnen hat. Anders als von vielen prophezeit, haben die Bewohner des Ortes ihr Votum nicht bereut. Sie haben entschlossen nachgelegt. Mit 37 Prozent der Stimmen zum Bürgermeister gewählt, hat Fabien Engelmann bei den Departements-Wahlen 2015 in Hayange für den Front National mehr als 50 Prozent erzielt. Weshalb Engelmanns Parteifreundin, die FN-Vorsitzende und Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen,nun hoffen darf, es in Hayange auf die absolute Mehrheit zu bringen. Landesweit werden ihr in der ersten Wahlrunde am 23. April 26 Prozent, in der zweiten 42 prophezeit.

Dabei hat Engelmann der Stadt kein Wirtschaftswachstum, keinen Wohlstand gebracht. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 17 Prozent. Die Hälfte der Bewohner verfügt über so wenig Einkommen, dass sie keine Steuern bezahlen muss. Eine letzte Insel wirtschaftlichen Lebens gibt es noch. Am Ortsausgang ist sie zu finden. Der Schienenhersteller British Steel beschäftigt dort 500 Mitarbeiter. Wer dort kein Auskommen findet, versucht sich oft im Ausland. Rund 40 Prozent der Bewohner Hayanges verdienen ihren Lebensunterhalt im 30 Kilometer entfernten Luxemburg, arbeiten bei Banken, Versicherungen, im Dienstleistungsgewerbe oder in der Bauwirtschaft. „Man bekommt diese Pendler die Woche über kaum zu Gesicht“, erzählt Jonathan Champion, der Sprecher des Bürgermeisters. „Sie stehen in aller Herrgottsfrühe auf, kehren erst am späten Abend zurück.“ Allerdings hat Engelmann vor der Wahl auch kein Wirtschaftswachstum und keinen Wohlstand versprochen. Dafür hat er seine wenigen anderen Versprechen eingelöst: Sauberkeit, Sicherheit, Bürgernähe.

Der Bürgermeister ist stets greifbar – das zählt für die Bürger

Jean-Luc, der seit Jahrzehnten in Diensten des Stadtreinigungsamtes steht, zeigt sich hochzufrieden. „So sauber war es hier noch nie“, sagt er. Auf dem Kirchplatz lägen nicht einmal mehr Kieselsteinchen herum. Der Mann in der orangefarbenen Warnweste versucht mit einer Metallzange zusammenzuklauben, was auf der Straße rar geworden ist: Zigarettenkippen, Papierfetzen. An Bushaltestellen aufgehängte Plakate der Gemeinde weisen darauf hin, dass auf das Hinterlassen von Hundekot 35 Euro Geldbuße stehen. Zwei Gemeindepolizisten treten hinzu, grüßen Jean-Luc. Die Ordnungshüter haben auf Engelmanns Geheiß personelle Verstärkung erhalten.

„Engelmann ist glaubwürdig, er ist einer von uns, er hält zu uns.“ Paul sagt das. Er sitzt auf einer Bank am Kirchbrunnen und blinzelt in die Frühlingssonne. Der Bürgermeister sei stets greifbar, fährt Paul fort. Jeden Mittwoch halte er in einem anderen Ortsteil Sprechstunde ab. Für alte Menschen habe er einen kostenlosen Bustransport eingerichtet, für in Luxemburg tätige Eltern eine morgens um 6 Uhr öffnende Kinderkrippe. Engelmann könne man vertrauen. Paul zählt zu den 2012 ausgeschiedenen und abgefundenen Stahlarbeitern des Ortes. Mitte fünfzig dürfte er sein. Wie die meisten Bürger der von den Medien als rechtspopulistische Hochburg in Verruf gebrachten Stadt begegnet er Journalisten mit Misstrauen, mag seinen Nachnamen nicht preisgeben.

Die meisten fühlen sich von den Linken im Stich gelassen

Den Sozialisten und Staatschef François Hollande vertraut Paul auch nicht. Er hat ihnen das Vertrauen entzogen, nachdem Hollande im Wahlkampf 2012 „den Arbeiterführer gegeben hat, auf einen Lieferwagen geklettert ist und mit einem Megafon in der Hand den Erhalt der Stahlproduktion versprochen hat“. Wie viele seiner Kumpels war Paul ein Linker gewesen. Bis er sich dann von den Genossen im Stich gelassen, ja verraten fühlte. Bis er beschloss, die Seiten zu wechseln. Bis er rechts außen eine neue politische Heimat fand.

Als die Rede auf den konservativen Präsidentschaftskandidaten François Fillon kommt, der seiner Familie mit Hilfe von Scheinarbeitsverträgen unverdienten Lohn zugeschanzt haben soll, steigt Paul die Zornesröte ins Gesicht. „Ich bekomme nach jahrzehntelanger Maloche 600 Euro Frührente, Fillons Frau und Kinder bekommen eine Million Euro fürs Nichtstun, die sind doch alle ein verdorbenes Pack.“

Die Abneigung gegen Fremde eint das Dorf

Zu Engelmanns Feldzug für Sauberkeit, Sicherheit und Bürgernähe tritt ein weiterer: Er richtet sich gegen die Fremden, auch dies stößt auf Zustimmung. Der 37-jährige Bürgermeister pflegt die hässliche Botschaft verführerisch zu verpacken. In einer seiner Bürgersprechstunden verkündet er: „Ich ertrage es nicht, dass eine alte Frau ihre Medizin nicht bezahlen kann, während wir in unserer Stadt Flüchtlinge gratis unterbringen und verpflegen.“. Das verstoße zutiefst gegen sein Gerechtigkeitsempfinden. Um 60 Albaner und 80 Sudanesen geht es, die Frankreichs Regierung trotz Engelmanns Veto in einem ehemaligen Hotel der Stadt einquartiert hat.

Engelmanns Abneigung gegen die Fremden geht so weit, dass er, der Vegetarier, der Fan der als Tierschützerin Furore machenden Filmlegende Brigitte Bardot, in Hayange jährlich im September das Fest des Schweins ausrichtet. Dann wird jede Menge Muslimen verbotenes Schweinefleisch gegrillt und verdeutlicht, wer in Hayange Herr im Haus und wer geduldet ist.

Das Böse kommt von draußen – das ist die Meinung der Dorfbewohner

Die Frage, ob Le Pens Pläne, Frankreich aus der EU zu führen und an den Grenzen wieder Schlagbäume anzubringen, im Sinne einer Stadt seien, deren Bewohner ihr Auskommen zu 40 Prozent in Luxemburg suchen müssen, verärgert Engelmann. Ungehalten wirkt er, macht eine abwehrende Geste, verschränkt die Arme vor der Brust. Überhaupt kein Problem sei das, man werde an den Pendlerautos Mikrochips anbringen, die an der Grenze freie Durchfahrt erlaubten. Ähnliches habe sich an Frankreichs Autobahnmautstellen bewährt.

Das Böse kommt von draußen – wir müssen uns zur Wehr setzen, lautet das Motto des Bürgermeisters. Sein Sprecher Champion erläutert es am Beispiel der erloschenen Hochöfen. Auf die Geldgier eines Sozialdumping betreibenden Multis sei das Desaster zurückzuführen, der in Billiglohnländern produzieren lasse, sagt Champion. Hinzu komme die Freihandelspolitik der EU, die keine protektionistischen Maßnahmen erlaube, die Unfähigkeit und Unaufrichtigkeit Pariser Politiker, die so getan hätten, als wollten sie das Stahlwerk retten. Und, ja – die Immigranten kämen ebenfalls von draußen. Die Worte des Bürgermeisters finden in der Bevölkerung Widerhall. Der Bistrobesitzer Sylvain erzählt von der Witwe eines im Algerienkrieg gefallenen Franzosen, die mit 400 Euro im Monat auskommen müsse, während der Staat für einen Flüchtling monatlich 600 ausgebe.

Le Pen darf in Hayange auf ein traumhaftes Wahlergebnis hoffen

In der Konditorei am Kirchplatz, wo Françoise und Anita mittlerweile beim Kaffee sitzen, glaubt man ebenfalls den Bürgermeister zu hören. „Dass Leute, die hier nicht hergehören, unsere Misere noch vertiefen, halte ich nicht aus“, sagt Anita. „Ich habe zeitlebens gearbeitet und bekomme im Alter weniger als die Ausländer, die nicht arbeiten.“ Die zwei verweisen auf den rechtspopulistischer Neigungen unverdächtigen Geografen Christophe Guilluy. Es sei ein Unding, Flüchtlinge in der Provinz anzusiedeln, wo es keine Arbeit gebe, hat er wissen lassen. Eine solche Politik treibe dem Front National die Wähler in die Arme. Dem Erhalt der Demokratie zuliebe sei es dringend geboten, in die von der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung abgekoppelten Landstriche zu investieren.

Und jene Bewohner, die bei den Departementswahlen nicht für Engelmann gestimmt haben? Sie halten sich bedeckt. Offen gegen den Lokalmatador aufzubegehren, empfiehlt sich nicht. Die politisch links stehende, Flüchtlinge unterstützende Hilfsorganisation Secours Populaire bekam das zu spüren. Engelmann hat den in einer Wellblechgarage tätigen Helfern die Kündigung geschickt und den Strom gekappt. Engelmann weiß die Mehrheit seiner Mitbürger auf seiner Seite. Die Minderheit weiß, dass mit ihm nicht zu spaßen ist. Und Le Pen weiß, dass sie in Hayange auf ein traumhaftes Wahlergebnis hoffen darf. Sie tut, was dort von ihr erwartet wird. Sie bietet den Mächtigen in Paris, Brüssel und dem Rest der Welt die Stirn. Sie verspricht Schutz vor dem draußen lauernden Unheil.