Der Jurist Andrij Melnyk ist seit Dezember 2014 Botschafter in Berlin. Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Wird ein Schauspieler neuer Präsident in Kiew? Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, erklärt die Besonderheiten des aktuellen Präsidentschaftswahlkampfes – und die Risiken des Fernsehens.

Stuttgart - Im ersten Durchgang der ukrainischen Präsidentschaftswahl hat sich der Komiker Wladimir Selenski überraschend und klar gegen den Amtsinhaber Petro Poroschenko durchgesetzt. Am Ostersonntag findet die Stichwahl statt. Andrij Melnyk, Ukraines Botschafter in Deutschland, über eine ungewöhnliche Wahlauseinandersetzung.

Herr Melnyk, schauen auch Sie häufig die Fernsehserie „Diener des Volkes“ an, in der Wladimir Selenski einen volksnahen Präsidenten der Ukraine spielt – also jener Mann, der gerade die erste Runde der echten Präsidentschaftswahlen gewonnen hat?

Ich schaue so gut wie gar kein Fernsehen, die von Oligarchen kontrollierten wichtigsten Fernsehsender sind bei uns ein riesiges Problem. Sie sind die Informationsquelle Nummer eins im Land, aber es gibt fast nur Schwarzmalerei. Das ist einer der Gründe, warum die Menschen nicht erkennen, dass es in den letzten Jahren durchaus positive Entwicklungen gab. Ich habe inzwischen meiner Mutter das Versprechen abgenommen, weniger fern zu sehen. Das ist besser für ihre Gesundheit.

Was sagt es über die Ukraine aus, wenn ein Schauspieler und Politik-Neuling solch einen Erfolg hat?

Zunächst einmal ist mir wichtig, dass die Wahlen frei und demokratisch abgelaufen sind. Das haben uns auch die internationalen Beobachter bescheinigt. Und dann muss man schon feststellen, dass wir einen hybriden, zwitterhaften Wahlkampf erlebt haben: Die Reality-Show des Fernsehens ist in das echte Leben transferiert worden.

Selenski stellt sich in seiner Fernsehrolle wie im Wahlkampf gegen das politische Establishment, gegen Korruption, gegen einen übersteigerten Nationalismus. Offensichtlich ist die Sehnsucht der Ukrainer nach einem Neustart riesengroß . . . 

Die Ukrainer sind ein sehr ungeduldiges Volk – wir hatten allein in den vergangenen 15 Jahren zwei Revolutionen. Zudem ist der bisherige Präsident Petro Poroschenko im Jahr 2014 mit dem Versprechen an die Macht gekommen, Frieden herbeizuführen. Frieden ist auch heute der größte Wunsch der Ukrainer. Aber aus unterschiedlichsten Gründen ist es nicht gelungen, den Krieg zu beenden. Der Schlüssel dafür liegt jedoch nicht in Kiew, sondern in Moskau.

Poroschenko wirft Selenski vor, zu Putin-freundlich zu sein. Aber wäre es nicht sinnvoll, wenn die Ukraine stärker als bisher den Dialog mit Russland suchen würde?

Dialogbereitschaft ist auch bei Poroschenko gegeben. Bisher ist davon allerdings auf russischer Seite nicht viel zu sehen – vor allem wenn es um die von Russland annektierte Krim geht. Wir können nicht ausschließen, dass Putin für den künftigen Präsidenten eine Hilfestellung gibt, in dem er zum Beispiel die Matrosen frei lässt, die seit den Vorfällen im Asowschen Meer vom November letzten Jahres in russischer Gefangenschaft sind. Aber es wäre illusorisch zu glauben, dass sich an der Haltung Moskaus etwas Substantielles ändert. So viel Optimismus habe ich nicht.

Der Krieg in der Ostukraine ist wie eingefroren, die Einbindung der Krim in den russischen Staat geht unvermindert weiter. Sehen Sie auf absehbare Zeit eine Chance, das zu ändern?

Für die besetzten Gebiete im Donbass gibt es eine realistische Chance, dass sich die Russen zurückziehen. Dafür könnten im Gegenzug die Sanktionen aufgehoben werden, die wegen des Kriegs in der Ostukraine gegen Russland verhängt wurden. Putin weiß, dass diese Sanktionen Russlands wirtschaftliche Entwicklung hemmen. Und die Menschen im Donbass sind für ihn nur Figuren auf dem großen geopolitischen Schachbrett. Was die Halbinsel Krim angeht, bin ich weniger hoffnungsvoll. Die Krim ist eine Existenzfrage für Putin, zu einer Lösung kann es in diesem Punkt wohl erst in der Nach-Putin-Ära kommen.

Welchen Einfluss wird das Ergebnis der präsidentiellen Stichwahl am Ostersonntag für die West-Orientierung der Ukraine haben? Bleibt es bei dem Wunsch, langfristig in die EU und die Nato zu kommen?

Sowohl Poroschenko wie Selenski sprechen sich dafür aus, dies weiterhin anzustreben. Das entspricht auch dem Mehrheitswillen der Ukrainer. Kein Präsident kann sich erlauben, daran zu rütteln – zumal sowohl die EU- als auch die Nato-Mitgliedschaft vor kurzem als Ziel in der ukrainischen Verfassung verankert wurden. Allerdings wird es darauf ankommen, mit welcher Energie und welchem Tempo daran gearbeitet wird. In den letzten Jahrzehnten haben wir zu viele Lippenbekenntnisse gehört und zu wenig Taten gesehen.