Christian Hermes schätzt das Stuttgarter Kulturleben. Foto: Achim Zweygarth

Stadtdekan Christian Hermes genießt die Vielfalt Stuttgarts, was manchmal recht anstrengend ist.

Stuttgart - Als Adresse könnte man angeben: mittendrin. Seit Christian Hermes vor zwei Jahren zum Stadtdekan der katholischen Kirche gewählt wurde, lebt er an der Königstraße. „Hermes“ steht auf dem obersten einer langen Reihe von Klingelschildern, die an der Rückseite des Hauses der katholischen Kirche angebracht sind. Auch seine Wohnung geht hinaus zur Stauffenbergstraße. Von dort überblickt der Doktor der Theologie, dem Papst Benedikt den Ehrentitel eines Monsignore verliehen hat, Teile des Schlossgartens. Von hier sieht er, was ihm besonders gefällt an der Landeshauptstadt: die Oper und das Schauspielhaus. „Das Kulturangebot ist einfach fantastisch“, sagt der 42 Jahre alte Stadtdekan. Der Oper fühlt er sich schon deshalb besonders verbunden, weil er von der „jeden Pausengong hört“.

Mitten in die City wollte die katholische Kirche, deshalb hat man die neue Hauptstelle direkt an die Domkirche Sankt Eberhard gebaut. Hier im Zentrum des städtischen Geschehens vernimmt man nicht nur Wohlklänge. „Ich hab’ hier jedes Wochenende Grölereien, Streitereien und Geschrei und den Autolärm der Angeber mit ihren heißen Kisten“, sagt Christian Hermes, und der jugendliche Monsignore ist darüber wenig erfreut. Es könne nicht sein, dass Tausende Menschen derart in ihrer Lebensqualität eingeschränkt würden. „Die Innenstadt ist nicht nur eine Shoppingmeile und ein Amüsierdistrikt. Sie ist auch das Zuhause von Menschen.“

An der Königstraße erlebt Monsignore Hermes noch andere Kehrseiten des „praktizierten Materialismus und Konsumismus“ der heutigen Zeit, die so gar nicht passen wollen zur glamourösen Welt der Werbebilder. Noch jede Woche sitzt der Stadtdekan zweieinhalb Stunden im Beichtstuhl von Sankt Eberhard und hört Menschen zu, die von ihrem Scheitern und von ihrer Seelennot erzählen. Es ist die schiere Masse von Passanten, die den Alltag in der Domkirche prägt. Keine andere katholische Kirche in der Stadt hat so viele Besucher. „Ich fühle mich hier wohl“, sagt Christian Hermes, trotz der Anonymität und Heterogenität in der City. Bisher waren die Stationen seines Werdegangs überschaubarer, abgesehen von Paris, wo Hermes neben Tübingen Theologie und Philosophie studiert hat. Danach war er Pfarrer in Rottweil und Leutkirch, während seiner Promotion im Tübinger Stadtteil Lustnau. Einige Jahre hat er als Assistent des damaligen Bischofs Walter Kaspar gearbeitet, danach trat er in den Dienst von Bischof Gebhard Fürst. Bis er die Pfarrei Sankt Elisabeth im Westen übernahm, eine der größten Gemeinden in der Diözese Rottenburg-Stuttgart.

„Diese Menschen erwarten, dass wir ihnen Heimat bieten“

„Der Westen ist kuschelig“, findet Christian Hermes. „Der Bezirk ist lebendig und offen, man lernt schnell Leute kennen.“ Und was für die „Westler“ gelte, könne man auch über die Bewohner anderer Stadtbezirke sagen, hat der Geistliche festgestellt: sie identifizierten sich mit ihrem Bezirk und seien stolz, dort zu leben. „Das finde ich recht sympathisch“, sagt Hermes.

So gesehen habe der Bad Cannstatter Mundartdichter Thaddäus Troll recht, der Stuttgart einmal „das größte Dorf Deutschlands“ genannt habe. Eine Feststellung, die kein Grund dafür sei, sich wie viele Stuttgarter ständig Sorgen zu machen, dass die Stadt nur ja nicht wieder mit dem früheren „Spießerimage“ belegt werde, findet der Stadtdekan. „Das ist völlig unbegründet.“ Die Berliner machten sich in ihrem „Kiez“ solche Gedanken jedenfalls nicht. Bei Themen wie diesen, gibt er zu, wünscht er sich manchmal, die etwas zur Aufgeregtheit neigenden Stuttgarter hätten ein wenig von der „Tiefenentspanntheit“, die er bei den Menschen im Allgäu kennengelernt hat.

Wer von Christian Hermes wissen will, ob er sich in der Landeshauptstadt heimisch fühlt, erhält keine klare Antwort. Der 42-Jährige, der aus einem kleinen Schwarzwalddorf bei Baden-Baden stammt, hat kein eindeutiges Verhältnis zum Thema Heimat. Als „Durchreisender“ versteht er sich nicht, „Hypermobilitätsfantasien“ misstraut er, ebenso dem „Unabhängigkeitsethos“, wie man es mitunter bei Geistlichen antreffe. Auch die Zitate, die Hermes statt einer Antwort bietet, geben keine Erklärung: nicht die Stelle aus dem Hebräerbrief des Paulus („Denn diese Welt ist nicht unsere Heimat; wir erwarten unsere zukünftige Stadt erst im Himmel“), nicht die Heimatutopie des Philosophen Ernst Bloch („etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“). „Irgendwo muss man mal bleiben“, stellt der mit Soutane und Kurzhaarschnitt so streng wirkende Stadtdekan nüchtern fest. „Auf dem Dorf fehlt einem die Oper, in der Großstadt die Vertrautheit.“

Entscheidend sei, dass die Kirche den Menschen Heimat gebe, sagt Christian Hermes, besonders eine Großstadtkirche, „die seit dem 19. Jahrhundert eine Migrantenkirche ist“. Mehr als 40 Prozent der Mitglieder sind Arbeitsmigranten und Vertriebene. Deren Anteil wächst durch den Zuzug aus den katholischen Krisenländern Südeuropas weiter. Hermes: „Diese Menschen erwarten, dass wir ihnen Heimat bieten.“