Eine Szene aus Polanskis Film Foto: dpa

Als erstes Wettbewerbs-Highlight in Venedig besticht „J’accuse“, das neue Werk von Roman Polanski. Politische Debatten bleiben auch deswegen bei dem Filmfestival am Lido nicht aus.

Venedig - Bis zum 7. September ist der Lido wieder der Nabel der Filmwelt. Auf Klasse statt Masse setzt der Festivalchef Alberto Barbera, inzwischen im achten Jahr im Amt, erneut. Der Wettbewerb des ältesten A-Festivals der Welt, gegründet 1932, umfasst 21 Filme, die Sektion „Orizzonti“ – vergleichbar mit dem „Forum“ der Berlinale – 19. Für Irritation sorgte der Mostra-Boss, als er rechtfertigte, warum so wenige Regiearbeiten von Frauen laufen – „in concorso“ nur „The Perfect Candidate“ von Haifaa Al Mansour und das Debüt „Babyteeth“ der Australierin Shannon Murphy. Man habe, so Barbera, dafür viele Filme ausgewählt, die von starken Frauen, besetzt mit ausgezeichneten Schauspielerinnen, erzählten.

Schon ist die Quotendebatte wieder da

Die Quotendebatte flammte sofort wieder auf. Zunächst mit Barbera als Sieger nach Punkten, traf er doch mit dem Eröffnungsfilm „La verité“, dem ersten europäischen Werk des letztjährigen japanischen Cannes-Gewinners Kore-eda Hirokazu („Shoplifters“) ins Schwarze. Um Familienbande geht’s auch da, um eine tückische, dominante Filmdiva und deren entfremdete Autoren-Tochter. Dialog-, Kopf- und Schauspielerkino, perfekt gehandhabt, ruhig, getragen von Catherine Deneuve und Juliette Binoche. Gut aufgenommen wurde auch Katrin Gebbes („Tore tanzt“) der „Orizzonti“-Opener „Pelikanblut“, in dem sich die Deutsche mit (bedingungsloser) Mutterliebe beschäftigt. In Person der gewohnt großartig agierenden Nina Hoss („Phoenix“), die ein Waisenmädchen adoptiert, das sich als wahrer Teufel entpuppt. Ob im Wortsinn oder übertragen, muss der Zuschauer bei diesem gewagten Mix aus Erziehungsdrama à la „Systemsprenger“ und Exorzismus-Mär selbst entscheiden.

Ein kontroverses Unterfangen, eine mutige Wahl. Wohl Wasser auf die Mühlen der US-Presse, die sich aus unerfindlichen Gründen auf Barbera eingeschossen hat. Das Branchenblatt „Hollywood Reporter“ meint, dass sich die Filmschau unter dessen Ägide zum „Fuck you festival“ entwickelt hat, die einschlägige Website IndieWire fragt gar, ob man heutzutage auf Festivals überhaupt noch kontroversen Filmschaffenden ein Podium bieten darf. Das ging natürlich in Richtung des inzwischen 86-jährigen (vermeintlichen) Vergewaltigers Roman Polanski und dessen „J’accuse“. Barbera erklärte knapp, dass er zwischen Mensch und Kunstwerk differenziert habe. Darüber lässt sich streiten, siehe Cannes und Lars von Trier.

Eine uralte Affäre

Verhandelt wird ein uraltes französisches Trauma, die sogenannte Dreyfuss-Äffäre, in die sich sogar der Großschriftsteller Émile Zola mit dem berühmten, titelgebenden offenen Brief an den Präsidenten der Republik einschaltete. Nach dem gleichnamigen Roman von Robert Harris, der zusammen mit Polanski das Drehbuch geschrieben hat, wird der Fall des strammen jüdischen Artillerie-Hauptmanns und vermeintlichen Landesverräter wieder aufgerollt.

In passend düsteren Bildern, gefilmt von Pawel Edelmann, hält sich das Justiz-Drama, das 1895 seinen Anfang nimmt, streng an historische Fakten: verknöcherte Militärs, tumber Hurra-Patriotismus, glühender Antisemitismus . . . Das Gestern spiegelt das Heute, siehe Migration, Rassenhass und Fremdenfeindlichkeit. Traditionell, bis auf zwei kurze erklärende Rückblenden, im besten Sinn altmodisch ist die Inszenierung, ziseliert sind die Dialoge, souverän tritt der Oscar-Preisträger Jean Dujardin („The Artist“) als Geheimdienstchef Georges Picquart auf, der maßgeblichen Anteil daran hat, dass der Elsässer Alfred Dreyfuss nach Jahren rehabilitiert wird. Ein Highlight.

Man hätte sich eine Pressekonferenz mit Polanski gewünscht. Aber er reist nicht an – auf Grund des Auslieferungsabkommens zwischen Italien und der USA. Dafür ist seine Gattin Emmanuelle Seigner vor Ort, die in diesem Männer-Film als Geliebte Picquarts besticht.