Große Spannung: Kann Kirill Petrenko die vielen Erwartungen auch alle erfüllen? Foto: AFP

Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker veröffentlichen ihre erste CD-Aufnahme. Das ist mit hohen Erwartungen verbunden. Wir haben sorgfältig hingehört.

Stuttgart - Als der Dirigent Herbert von Karajan 1989 starb, war es alsbald vorbei mit dem Mythos vom Maestro, dem Bild vom Pultgenie, unnahbar, autokratisch, sakrosankt – glaubte man. Von nun hieß es bei Karajans Nachfolgern auf dem Chefposten der Berliner Philharmoniker: „Ich bin der Claudio“, „Hey, I am Simon“. Abbado und Rattle brachten einen neuen, zeitgemäßen Ton und Umgang mit, der im Übrigen mit der historischen Aufführungspraxis längst Eingang in die Klassikszene gefunden hatte.

Ist es damit wieder vorbei? Derzeit wundert man sich über mancherlei Mystifizierung. Als ob das Publikum seine Helden brauche, Lichtgestalten, lechzt es nach Persönlichkeit, Aura, Charisma. Die Medien spielen mit. Auftritt des Genies. Und überhaupt viel Superlativismus. Der gilt allerdings nur bis zum nächsten Hype. Hieß es in der „Süddeutschen Zeitung“ noch 2013: „Die Berliner Philharmoniker sind das beste Orchester, und Simon Rattle ist der beste Dirigent der Welt,“ schreibt der gleiche Autor zwei Jahre später: „Denn Petrenko steht – wie schon seine Vorgänger Claudio Abbado und Simon Rattle – für Weltoffenheit; zudem ist er derzeit der beste, weil leidenschaftlichste, fantasiebegabteste und detailverliebteste unter den Dirigenten.“

Genie oder nicht?

Der Beste, der Größte … was für ein Quatsch. Als vor einigen Monaten der Dirigent Daniel Barenboim wegen seines ruppigen Umgangstons mit Musikern und Mitarbeitern der Staatskapelle und der Staatsoper Berlin in die Kritik geriet, waren willfährige Verteidiger schnell bei der Hand: Barenboim sei ein Genie. Unausgesprochen schwang in etlichen Verteidigungsartikeln mit, da müssten doch andere Maßstäbe angelegt werden.

Der Komponist und Blogger Moritz Eggert konterte kühl, ihm sei es „scheißegal, ob Barenboim ein Genie ist oder nicht“. „Wenn Leonardo da Vinci das Auto, das wir ihm geliehen haben, zu Schrott fahren würde, würde sicherlich keiner auf die Idee kommen, kein Geld zu verlangen, nur weil es DER Leonardo da Vinci ist.“ Auch Übermenschen sollen haften, für Sachschäden und moralische.

Musikgötter und stillere Menschen

Es gibt derzeit zwei mitteljunge Dirigenten, die zwar nicht asozialen Verhaltens geziehen werden, aber schwer unter Genieverdacht stehen. Von Teodor Currentzis, Chef des SWR-Symphonieorchesters, ist im Sender halb ehrfürchtig, halb spöttisch nur als Messias die Rede. Tatsächlich versteht sich keiner besser aufs prätentiöse Raunen als der 47-jährige Grieche. Kirill Petrenko, 13 Tage älter, ist sein Gegenteil: scheu, bescheiden, außerhalb des Orchestergrabens und des Konzertsaals sozusagen unsichtbar. Seit Jahren gibt der Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper der Presse keine Interviews. Was ihm den Vergleich mit Carlos Kleiber einhandelte, auch so ein Unerreichbarer. Musikgott halt.

Petrenko gehört spätestens zum Musik-Olymp, seit er im Juni 2015 überraschend statt der Favoriten Christian Thielemann (zu schnoddrig, um als Geistesgröße durchzugehen) und Andris Nelsons (sehr lieb und nett, spielt außerdem Trompete) zum Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker vom Herbst 2019 an gewählt worden war.

Enorm aufgeladen

Entsprechend aufgeladen waren die wenigen Konzert mit den Berlinern nach Petrenkos Kür, besonders das im März 2017, dem ersten mit dem künftigen Chefdirigenten nach der Wahl 22 Monate zuvor. Ein Märchen sollte beginnen. Die abstinente Zeit hatte die Erwartungen aller – Orchester, Publikum, Presse – enorm aufgeladen: War die Wahl die richtige gewesen, würde der fragile, immer leicht elegisch wirkende Russe die Erwartungen erfüllen, ihnen standhalten, ja, sie übertreffen? Auf dem Programm in Berlin und in Baden-Baden standen Werke von Mozart, John Adams und als Hauptstaatsaktion Peter Tschaikowskys Sinfonie Nr. 6, die sogenannte Pathétique.

Jetzt ist die Sinfonie die erste Audioveröffentlichung einer von allen erhofften gloriosen Verbindung. Die Aufnahme, herausgekommen auf dem hauseigenen Label der Philharmoniker, muss sich starker eigener Konkurrenz stellen, hat doch das Orchester das Werk in seiner Vergangenheit mehrfach aufgenommen, darunter mit Petrenkos Vorgängern Wilhelm Furtwängler und Herbert von Karajan sowie, besonders herausragend, 1953 im Studio unter der Leitung von Ferenc Fricsay.

Wie zu Furtwänglers Zeiten

Petrenko inspiriert die Musiker zu Wachheit, klanglicher Fülle, dynamischer Differenzierung und Detailreichtum der Artikulation, all das überwältigt beim ersten Hören; dazu kompakte Streicher, vor Selbstbewusstsein strotzende Holzbläser und preußisch auftrumpfendes Blech. Man meint, runder, satter, prägnanter ginge es nicht. Wie zu besten alten Furtwängler-Zeiten grundiert die Pauke das Klangbild, treibt die dramatische Erzählung etwa am Schluss des marschhaften Scherzos voran. Überhaupt ist dieser Satz zwischen vom Sommernachtstraum-Geschnatter-Anfang bis zum galoppierendem Wildwest-Galopp so durchsichtig, dass man alle Stimmen mitschreiben könnte.

Allmählich jedoch wirkt alles etwas zurückgelehnt und trotz Temperament kontrolliert. Ein Ritt in den Abgrund zwar, bewegend im verlöschenden Finalsatz, aber mit doppeltem Sicherungshaken. Bei Ferenc Fricsay hat man das Gefühl, als komponierte sich das Werk mit dem Erklingen: Mehr als eine Minute ist der Ungar im Scherzo schneller als Petrenko, ohne dass Notenverluste zu beklagen sind – was für ein Furor. Trotz der Monoaufnahme ist erkennbar, dass das damalige Orchester im heutigen seinen Wiedergänger hat: Orchester-DNA. Kirill Petrenko hat Zeit, dieses Orchester braucht keine. Es überdauert sie.