Einer der rührenden privaten Momente beim Woodstock-Festival, der als Album-Cover allgegenwärtig wurde. Foto: Warner

Dabeisein ist alles? Von wegen! Man kann vom Woodstock-Festival, das vor fünfzig Jahren stattfand, auch schwärmen, ohne wirklich dabeigewesen zu sein: neun nostalgische Annäherungen.

Woodstock - Schlamm, Dreck, Hunger, Durst, Anfahrtschaos, mieses Wetter etc. pp.: Alles, was man bei einem Rockfestival nicht mag, kam bei Woodstock im August 1969 zusammen. Und all das war bedeutungslos. Die Mutter aller Festivals war ein Ausnahmeereignis, ein Happening nicht ganz von dieser Welt. Auch wer damals zu jung war, selbst hinzufahren, wer es nur via Schallplatte oder aus dem einst die Studentenkinos in der Großstadt und die Nachtvorstellungen des Dorfkinos füllenden Dokumentarfilm „Woodstock“ nachträglich mitbekam, hat Bilder im Kopf, Klänge im Ohr, vielleicht Glück im Herzen. Wir haben mal in der Redaktion herumgefragt, wer oder was den Kolleginnen und Kollegen spontan zu Woodstock einfällt.

Der Regisseur: Michael Wadleigh

Die einen mögen gedacht haben: „Das wird sowieso eine Pleite!“ Die anderen: „Ich lasse mir doch nicht von Junkies die Kamera klauen!“ Jedenfalls war kein Starregisseur vor Ort, als sich das Festival aller Festivals entfaltete, sondern der knapp 27-jährige Michael Wadleigh. In Hollywood kannte den keiner, aber das Studio Warner war schlau genug, ihm 600 000 Dollar Produktionsbudget zu geben: So entstand die Konzertdoku „Woodstock“, die alleine in den USA über 50 Millionen Dollar einspielte. Wadleigh wurde um einen fairen Anteil daran geprellt, aber das Plakat hing in Millionen Jugendzimmern als Tür zur Traumwelt. Am 16. August um 22.10 Uhr läuft „Woodstock“ auf Arte. (tkl)

Country Joe McDonald: Die Hymne

„Whoopee, we’re all gonna die!“ („Juhu, wir werden alle sterben!“), trällerte Country Joe McDonald in Woodstock, als verkünde er eine frohe Botschaft. Vietnam ist allgegenwärtig im „I-feel-like-I’m-fixin’-to-die Rag“, doch der universelle Inhalt des Liedes weist weit über jenen Krieg hinaus, der die 68er-Proteste maßgeblich befeuerte. Frech verdrehte McDonald Anwerbungsrhetorik zur Antikriegshymne: „Be the first one on your block to have your boy come home in a box“ („Sei der Erste in Deinem Straßenzug, der seinen Sohn in einer Kiste zurückbekommt“), heißt es da, und ein Satz – aktuell lässt Iran grüßen – scheint unter den Falken in Washington nie aus der Mode zu kommen: „You know that peace can only be won when we’ve blown ’em all to kingdom come“ („Ihr wisst, dass Frieden nur erreicht werden kann, wenn wir sie alle ins Jenseits bomben“). (ha)

Carlos Santana: Der Migrant

Ein 20-jähriger mexikanischer Immigrant ließ in Stücken wie „Soul Sacrifice“ seine Gitarre jubilieren und brachte das Festival mit einem unerhörten Latin-Rock-Mix zum Brodeln. Einen musikalischen Höhepunkt und ein Multikulti-Erlebnis bot der Auftritt des noch unbekannten Carlos Santana, dessen Debütalbum erst zwei Wochen später erschien. In den Stripclubs der Grenzstadt Tijuana hatte er als Kind gespielt, ehe seine Familie 1960 nach San Francisco übersiedelte. 1965 wurde er US-Amerikaner. In seiner Musik blieb lateinamerikanisches Erbe bestimmend, in seinem Denken das Hippie-Zeitalter. Man müsse „Angst, Brutalität, Gewalt“ etwas entgegensetzen, erklärte er 2015 beim Jazz-Open-Konzert auf dem Stuttgarter Schlossplatz wie ein Botschafter aus einer anderen, längst vergangenen Welt: „Liebe, Freundlichkeit, Mitgefühl“. (ha)

Joan Baez & Co.: Die Frauenquote

Woodstock, das Fest der Liebe und des Friedens – nicht aber der Gleichberechtigung. Nur wenige Frauen waren auf der Bühne vertreten, die Rock-, Folk- und Soulmusik war meist männlich. Immerhin: Joan Baez lieferte mit „Joe Hill“ über einen Arbeiterführer und dem bissigen Anti-Rassisten-Stück „Drug Store Truck drivin’ Man“ starke Statements, während die von ihrer Heroinsucht gezeichnete Janis Joplin sich ein weiteres „Piece of my Heart“ herausriss. Jefferson-Airplane-Frontfrau Grace Slick sang für früh aufgestandene „Morning Maniacs“ den Kracher „Somebody to love“ und den Psychotrip „White Rabbit“ betörend und kraftvoll. Cynthia Robinson und Rosie Stone komplettierten Sly and the Family Stone, die erst 22-jährige Melanie Safka trat solo mit ihrer Gitarre auf. Was wäre die Party ohne sie alle gewesen! (kah)

Richie Havens: Das Freiheitslied

Bis heute gehört „Freedom“, Richie Havens’ grandiose Weiterdichtung eines Traditionals aus der Zeit der Sklaverei zu den intensivsten Stücken des Festivals. Insgesamt elf Songs seines angeblich dreistündigen Sets sind überliefert, darunter „From the Prison“, „High flying Bird“ und ein Cover des Beatles-Hits „Hey Jude“. Wirklich unvergesslich ist aber, wie Havens Sehnsucht, Verzweiflung und Einsamkeit in rhythmisch phrasierte, virtuos verschrammelte Gitarrenakkorde und teils improvisierte Zeilen packte: „Sometimes I feel like a motherless child, a long long way from my home.“ Als Afroamerikaner war Havens eine Ausnahme im weißen Folk-Genre, das von Musikern wie Bob Dylan oder Joan Baez geprägt wurde. Mit „Freedom“ räumte er in weniger als fünf Minuten alle Barrieren beiseite, ein Gänsehaut-Moment. (kah)

Jimi Hendrix: Der Gitarrengott

Leider bin ich erst in den frühen 80ern musikalisch sozialisiert, daher läutete es lange Zeit nur bei Jimi Hendrix, wenn sich Gespräche ums Woodstock-Festival drehten. Der Name ist mit einer peinlichen Erinnerung verbunden. Ernsthaft musste mein zehn Jahre älterer Bruder einmal seiner gerade schulpflichtig gewordenen Schwester erklären, dass aus ihrer Sicht womöglich Elvis-Epigone Shakin’ Stevens hübsch sei, Elvis aber besser gesungen hätte. Irgendwann wurde es dem erstaunlich langmütigen Bruder zu bunt, und er beendete das Gespräch mit dem Hinweis darauf, dass ohnehin niemand so cool sei wie der Gitarrengott Jimi Hendrix. (golo)

Joe Cocker: Der Urschrei

Der Mann mit den wirren Locken und den unanständig buschigen Koteletten windet und krümmt sich. Er scheint mit fuchtelnden Armen und zuckenden Fingern alle Instrumente gleichzeitig spielen zu wollen: die kreischende Gitarre, die wummernde Orgel, den polternden Bass – all die Instrumente, die dann fast verstummen, als er zu singen beginnt, jeden Ton aus sich herauspresst und schließlich im ekstatischen Finale seiner Interpretation von „With a little Help from my Friends“ einen Schrei ausstößt, den man sein Leben lang nicht mehr vergessen wird – und der damals in Woodstock Joe Cocker unsterblich machte. (gun)

Woodstock: Der Vogel

Selbstverständlich wurde Anfang der 1970er Jahre auch in Bremer Kinderzimmern über kaum etwas mehr diskutiert als über Woodstock! Von Popkonzerten mit viel Matsch, Rausch und freier Liebe hatten Zehnjährige zwar damals nur vage Ahnungen, aber dafür strahlte das ZDF gerade die „Peanuts“-Trickfilme aus. Und wer wurde da schnell neben Snoopy zu unserer Lieblingsfigur? Natürlich Snoopys bester Freund und Sekretär, ein kleiner gelber Vogel mit Wuschelfrisur, von Zeichner Charles M. Schulz nach dem Festival benannt. Er konnte zwar nur sehr schlecht fliegen, aber dafür Steno. Wenn Snoopy tanzt und Woodstock dabei um die fliegenden Hundeohren segelt – ein großes, wahres Fest! (schl)

Joni Mitchell: Die Nachzüglerin

Besser vielleicht als alle, die dabei waren, hat eine Frau den Geist Woodstocks erfasst, die das Festival nur auf dem Fernsehgerät ihres Hotelzimmers verfolgte. Im April 1970 erschien das Stück „Woodstock“ auf Joni Mitchells dritten Album „Ladies of the Canyon“, drei Monate später die Version von Crosby, Stills, Nash and Young. Der Song wurde zur Hymne. „We are Stardust, we are golden, and we’ve got to get ourselves back to the Garden“ – das waren Zeilen, die die Hoffnungen und Träume einer Generation mitten ins Herz trafen: „Wir sind Staub der Sterne, wir sind golden, und wir müssen zurückkehren in den Garten.“32 Jahre später sollte Joni Mitchell ihren Woodstock-Song noch einmal aufnehmen, dieses Mal mit großem Orchester, begleitet von prominenten Jazzern wie Herbie Hancock, Wayne Shorter und Kenny Wheeler. Kein Wort änderte Mitchell an ihrem Text, und doch verwandelt sich „Woodstock“ in ein anderes Lied. Unter dem Eindruck der Terroranschläge vom September 2001 soll diese Aufnahme entstanden sein – mehr noch hört man Joni Mitchells tiefe persönliche Enttäuschung heraus. „And I dreamed I saw the bombers, riding shotgun in the sky, and they were turning into butterflies above our nation.“ Der naive Traum von den Bombern, die sich in Schmetterlinge verwandeln – 2002 schien er für Joni Mitchell endgültig ausgeträumt. (mora)