Amfortas (Ryan McKinny) über Titurels Sarg Foto: Nawrath/Bayreuther Festspiele

Unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen und vor stark verminderter Prominenz haben zwei Einspringer in Bayreuth Richard Wagners letztes und schwierigstes Werk auf die Bühne des frisch renovierten Festspielhauses gebracht. Der Festspiel-Auftakt überzeugte szenisch oft, musikalisch fast immer.

Bayreuth - Weg mit dem Tand! Die Ritter nehmen Abschied. Schreiten hin zum Sarg Titurels in der Bühnenmitte, in den Parsifal schon die zum Kreuz verbundenen Hälften des Speers gelegt hat, und werfen hinein, was ihnen heilig war: Kreuze, Kelche, Leuchter, Götterbilder. Das muss alles weg, wenn die Grenzen zwischen den Religionen fallen, wenn sich ideologische Fronten auflösen sollen in einer großen Friedens-Utopie, die am Ende dieser „Parsifal“-Premiere auch alles Kunstreligiöse und Wagnerkultige einschließt. Im Festspielhaus gehen bei der letzten Szene die Lichter an, der Vorhang schließt sich vor dem Applaus nicht wieder, und eigentlich würde es passen, wenn das Publikum jetzt keinen Beifall spendete, sondern einfach hinausginge aus dem Saal, wenn es das Spalier der Sicherheitskräfte und Polizisten in Bayreuth still durchschreiten und sich fragen würde, wie es dazu kommen kann, dass allerorten die Angst umgeht vor Menschen, die Terror und Gewalt mit religiösen Motiven legitimieren.

Wagners letztes Bühnenwerk ist auch sein schwierigstes. In Bayreuth haben sich zuletzt Stefan Herheim (mit einem Vexierspiel voller historischer, kunstgeschichtlicher und philosophischer Verweise) und Christoph Schlingensief (mit einem bunten Sammelsurium als „Friedhof der Kunst“) die Zähne an ihm ausgebissen; dem streitbaren Künstler Jonathan Meese, der sich in diesem Jahr wohl zuallererst selbst im „Parsifal“ spiegeln wollte, haben die Festspiele (offiziell aus finanziellen Gründen) den Regie-Auftrag entzogen, und so hat jetzt Uwe Eric Laufenberg, der als Opernintendant 2014 von Köln nach Wiesbaden wechselte, das synkretistisch zwischen Christentum, Buddhismus und Schopenhauer angesiedelte Stück in Szene gesetzt. Geholfen hat ihm dabei der Bühnenbildner Gisbert Jäkel, der den ersten Akt in einer christlichen Kirche, den zweiten in einer Moschee und den dritten schließlich zwischen zwei halb zerstörten Gebäudehälften spielen lässt, welche die Natur gerade mit Macht zurückerobert. Riesige Pflanzentriebe wuchern durch Fenster und Türen. Eines der Wesendonck-Lieder Wagners heißt „Im Treibhaus“; das Bild zur Musik gibt es hier.

Kann man Wagners „Parsifal“ überhaupt logisch inszenieren?

Es liegt in der Natur eines aus so unterschiedlichen Elementen und Ideen zusammengesetzten Stückes wie des „Parsifal“, dass auch seine Interpretationen etwas Patchworkartiges haben müssen, wenn sie dem Werk nicht Gewalt antun wollen. Das ist auch in Uwe Eric Laufenbergs Inszenierung der Fall. Sogar dass bei ihm überzeugende Bilder und wenig Zwingendes nebeneinander stehen, ließe sich begründen – zumindest mit der These, dass man bei Wagners gedanklich und ideologisch komplexem „Bühnenweihfestspiel“ wohl nie an ein Ende des Denkens kommen wird. „Parsifal“ bleibt, nicht nur wegen seiner kryptischen Forderung „Erlösung dem Erlöser!“ ein ewiger Streitfall.

Schon zur Musik des Vorspiels sieht man Pilger, vielleicht auch Flüchtlinge, die auf Feldbetten lagern; einer von ihnen hebt die Hände, als ein heller Lichtstrahl auf ihn fällt. Das ist schon ein bisschen kitschig. Unter den Menschen, die das Gebäude bevölkern, sind auch halb verschleierte Frauen, und die Brotstücke, die verteilt werden, muten an wie jüdische Mazzen. Als Gurnemanz den „wundervollen, heiligen Speer“ besingt, machen hinter ihm schwer bewaffnete Soldaten Rast, und als er vom Gral erzählt, hängen mönchische Ritter hinter ihm eine Jesus-Figur ans Kreuz. Das sind keine neuen Ideen: In Laufenbergs Inszenierung findet sich Vieles wieder, was zuletzt zu „Parsifal“ ins Bild gesetzt worden ist. Der kleine Junge, der in dem Moment tot zu Boden fällt, als der Titelheld jagend einen Schwan erlegt: Ihn sah man schon bei Calixto Bieito in Stuttgart, aber in Bayreuth steht er nun nicht für einen gefallenen Engel, sondern gleicht jenem toten Flüchtlingskind am Mittelmeer, dessen erschütterndes Bild wochenlang durch die Medien ging. Ein wenig plump ist das schon, aber wie heißt es so schön: Wir werden abgeholt.

Filmstreifzug durchs Weltall und Amfortas als Opfer

„Zum Raum wird hier die Zeit“: Das hat der Regisseur wörtlich genommen. Bei Gurnemanz’ Worten senkt sich ein Vorhang, Wagners Musik wird, was sie auch ist, nämlich wirkungsvoller Filmsound, und zu sehen sind Bilder, die jenen zu Beginn von Stanley Kubricks Kultfilm „2001 – Odyssee im Weltraum“ gleichen. Von einem kleinen Ort im Zweistromland fährt die Kamera durch schwirrende Planeten, an der Sonne vorbei und wieder zurück. Eine tolle, wirkungsvolle, sprechende Idee. Auch die anschließende Abendmahlsszene hat nichts Verbrämtes: Amfortas trägt eine Dornenkrone, und Laufenberg folgt jener Deutung, der zufolge Joseph von Arimathia das Blut des gekreuzigten Jesus in einer Schale auffing. So wird der Mann mit der Wunde zum Märtyrer, zum Opfer einer Gemeinschaft, die (sehr katholisch) so stark vom Bewusstsein der eigenen Schuld geprägt ist, dass sie eine Projektionsfigur braucht, um ihr Leid abladen und selbst weiterleben zu können. Der chorische Ringelreihen um das Taufbecken wäre anschließend nicht nötig gewesen.

Titurels Schloss ist eine Moschee, in welcher der Zauberer vergebens seinen Gebetsteppich ausrollt: Erst lässt sich die richtige Himmelsrichtung nicht finden, dann zieht es ihn nach oben in sein kleines, kreuzbehängtes christliches Séparée, dem Ort seiner Sehnsucht und Qual, wo er sich geißelt, während unten aus verschleierten Musliminnen Haremsmädchen – eben Wagners Blumenmädchen – werden (im Folgeakt duschen diese im Regenwald unter einem Wasserfall, aber das ist vielleicht nicht ganz so zwingend). Hier zieht Parsifal erst einmal nun als Soldat ein, küsst Kundry, und als er („Amfortas! Die Wunde!“) zurückweicht, ist der Mann da, an den er sich gerade erinnert – und vollzieht den Geschlechtsakt, den Wagners „reiner Tor“ nicht vollziehen will, kann oder soll. Die verquaste Philosophie der Erlösung durch Entsagung, die bei Wagner hinter diesem Bild steht, bleibt auch hier sehr fremd und fern, aber das ist nicht weiter schlimm, denn dem Komponisten selbst ging es zumindest in der Praxis auch nicht anders.

Hartmut Haenchen sorgt für Dynamik im Orchestergraben

Eine Qualität von Laufenbergs Inszenierung ist, dass sie auf dem Weg vom Christentum zur Kunstreligion Dynamik entfaltet – bis hin zum dritten Akt, in dem Parsifal nach jahrelangen Irrwegen die Montur eines als IS-Kämpfers gegen den schwarzen Anzug eines Festivalbesuchers tauscht (aus Ideologie wird Kunstreligion, siehe oben). Diese Dynamik kommt auch aus dem Orchestergraben, und der Mann, der die Tempi straff (fast so straff wie seinerzeit Pierre Boulez), außerdem überaus beweglich flexibel hält und die Lautstärkegrade ebenfalls fein abstuft, ist Hartmut Haenchen, der zweite Einspringer des Abends – er kam für Mariss Jansons, der kurzfristig seine Arbeit abbrach. Nach einem noch etwas diffusen Vorspiel zum ersten Akt macht Haenchen seine Sache richtig gut. Wer einen „Parsifal“ mit Bühnenweihfestspiel-Weihrauch hören will, ist bei ihm allerdings schlecht aufgehoben.

Unter den Wagner-Tenören ist Klaus Florian Vogt mit seiner klar fokussierten, reinen, hellen, „naiven“ Stimme (Sänger-Kenner bezeichnen sie als „weiß“) in der Titelpartie eine Idealbesetzung. Gelegentlich fehlt es ihm ein wenig an Tiefe, gelegentlich geraten Verzierungen nicht ganz sauber, aber so wie Vogt singt, stellt man sich einen vor, der „durch Mitleid wissend, der reine Tor“ sein soll. Elena Pankratova glänzt als klangfarbenreiche Kundry vor allem im zweiten Aufzug; Georg Zeppenfeld gibt einen Gurnemanz, der wirkt wie ein dramatischer Evangelist in Bachs Passionen: empathisch miterlebend, präzise gestaltend – eine exzellente Besetzung. Ryan McKinny, der seinen athletischen Körper mit guter Wirkung in Pose bringt, gelingt als Amfortas nicht immer die Verbindung herausgeschleuderter Einzeltöne zur Linie, und Gerd Grochowski als Titurel gelingt dies gar nicht. Schönes hört man hingegen von Chor, Blumenmädchen, Gralsrittern und Knappen.

Vom Bühnenhimmel schaut stumm eine Puppe

Und über allem schwebt ein Mann. Drei Akte lang sitzt eine Puppe auf einem Stuhl, beobachtet durch ein Loch auf einer vom Bühnenhimmel hängenden Plattform reglos, was unter ihm lebt, liebt und leidet. Das, denkt man, kann nicht Christian Thielemann sein, der musikalische Chef, der auf dem Grünen Hügel auch Kollegen so kontrolliert, dass sie womöglich den Bettel hinschmeißen. Nein, das muss wohl Gott sein: ein stummer Gast. Für den zu kämpfen, ist wirklich nicht der Mühe wert.