Naturerfahrung statt Naturwissenschaft, fordern Pädagogen. Foto: Max Kovalenko

Die Natur ist für Kinder so wichtig wie gute Ernährung, sagt der Kinderarzt und Autor Herbert Renz-Polster. Dort finden sie die Quellen, die sie für ihre Entwicklung brauchen.

Die Natur ist für Kinder so wichtig wie gute Ernährung, sagt der Kinderarzt und Autor Herbert Renz-Polster. Dort finden sie die Quellen, die sie für ihre Entwicklung brauchen.

Stuttgart - Die Drittklässler stehen im Kreis. Waldpädagogin Joanna Urban geht reihum und lässt jeden einmal in den Beutel greifen. Dann machen sich die Kinder mit Walnuss, Eichel oder Kieferzapfen gruppenweise an ihre Aufgabe: Sie sollen den Frühling suchen.

Die einen streifen zwischen den Bäumen umher, die andern fahnden auf der Wiese nach Blumen. Eine Stunde später präsentieren sie sich gegenseitig stolz ihre Funde: Löwenzahn und Brennnessel, Buschwindröschen und Schlüsselblumen – und eine Reihe ihnen unbekannter Pflanzen, denen sie Fantasienamen geben.

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Ein Besuch mit ihren Klassen im Haus des Waldes in Stuttgart-Degerloch gehört für die Lehrerin der Drittklässler seit Jahren zum Programm. Nicht nur, damit sie Pflanzen und Tiere kennenlernen – das ließe sich auch im Klassenzimmer verwirklichen. Ihr ist wichtig, dass die Mädchen und Jungen den Wald mit allen Sinnen erleben, seine Geräusche, seinen Geruch, die Überraschungen, die hinter Bäumen und Sträuchern lauern. Und dass sie Lust bekommen, mit Familie und Freunden in die Natur zu gehen.

Programm wird auf Alter und Interessen abgestimmt

Das Haus des Waldes ist beliebt. Rund 830 Gruppen, davon 420 Schulklassen und 100 Kindergartengruppen, besuchten im vergangenen Jahr die Einrichtung auf der Waldau in der Nähe des Fernsehturms, insgesamt kamen mehr als 43 000 Besucher. Kindergartengruppen, Schulklassen von der Grundschule bis zum Gymnasium, aber auch Senioren. Wie das Programm aussieht, hängt jeweils vom Alter und den Interessen der Besucher ab.

In der Ausstellung können Kinder Mäuse, Vögel und Füchse aus nächster Nähe betrachten, die ausgestopften Tiere dürfen auch berührt werden. Draußen spüren sie anhand von angefressenen Zapfen, Federn oder Fellresten und Fußspuren Tieren nach. Jugendliche können sich dort auch an Äxten, Sägen und anderen Werkzeugen versuchen, etwa beim Hüttenbau.

Tags zuvor haben Mitarbeiter mit Neuntklässlern einer Werkrealschule Seifenkisten aus Holz gebaut, das Material stammte selbstverständlich wie bei allen Aktionen aus dem Wald. „In einem solchen Arbeitseinsatz stecken Wissen, Kompetenzen und Werte“, sagt Berthold Reichle, Leiter des Hauses des Waldes.

Welcher Baum soll gefällt werden?

Wenn beispielsweise ein Baum gefällt werden soll, wird darüber diskutiert, welcher dafür infrage kommt und welche Folgen das für die Pflanzen in der Umgebung hat. Und die Schüler müssen gut zusammenarbeiten und sich absprechen, damit sie ihre Aufgabe schaffen.

„Der Wald verändert mitunter auch die Gruppen“, berichtet Eberhard Bolay, der als pädagogischer Leiter seit Jahren Angebote für die verschiedenen Besuchergruppen im Haus des Waldes entwickelt. Denn in der Natur sind andere Fähigkeiten und Fertigkeiten gefragt als im Klassenzimmer. Schüler, die sich im Fachunterricht eher zurückhalten, zeigen vielleicht, dass sie sehr wohl anpacken können, manche Störenfriede hingegen werden einfach ruhig.

Gut wäre es für die Kinder und Jugendlichen, wenn sie mehrmals kommen könnten, sagt Bolay. Doch dieses Glück haben nur relativ wenige Klassen. Bei vielen Lehrern und Eltern gilt der Ausflug in die Natur eher als Freizeit denn als Lernzeit – und damit verzichtbar.

Das sehen allerdings nicht alle so. Das Interesse an Waldkindergärten wächst – auch wenn die Betreiber noch immer viele Hürden überwinden müssen. „Natur ist mehr als nur ein Erholungsort, sie ist ein natürlicher Entwicklungsraum für Kinder und Jugendliche“, sagt der Kinderarzt und Autor Herbert Renz-Polster. Dort können Kinder lernen, mit sich selbst und mit anderen klarzukommen und kreativ zu sein.

In seinem Buch „Wie Kinder wachsen“, das er zusammen mit dem Hirnforscher Gerald Hüther verfasst hat, plädiert er dafür, Kindern wieder mehr Freiräume zu geben – das kann eine Wiese oder ein Wäldchen sein, aber auch ein Hinterhof oder eine Brache. „Das größte Hindernis für Naturerfahrungen sind nicht die immer kleiner werdenden Naturräume in den Städten, sondern die pädagogischen Vorstellungen der Erwachsenen“, kritisiert der Vater von vier Kindern.

Eltern befürchteten, dass ihr Nachwuchs zu kurz komme, wenn er nicht schon frühzeitig auf die Arbeitswelt getrimmt werde. Damit wachse der Druck auf die Kinder und die Unlust am Lernen. Statt Naturwissenschaften im Kindergarten bräuchten sie Naturerfahrungen, sagt er, das Spielen mit Wasser, Erde und Luft. Seine Empfehlung: „Wir sollten ihnen weniger vermitteln und sie mehr selbst machen lassen.“