Otmar Heirich verlässt das Rathaus der Hölderlinstadt Nürtingen mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Foto:  

Für Otmar Heirich ist am Mittwoch sein letzter Tag als Nürtinger Oberbürgermeister. Die Aufgabe hat er nie bereut, wenngleich das Geschäft schwieriger werde. Er stellt ein zunehmendes Desinteresse an der Kommunalpolitik fest bei gleichzeitigem Verfall der Sitten.

Nürtingen - Zwei Amtszeiten lang hat Otmar Heirich (SPD) die Kommunalpolitik Nürtingens entscheidend mitgeprägt. Jetzt geht der 68-Jährige in den Ruhestand. Zum Abschied spricht er über die schönen Seiten seines Berufs, aber auch über harte Auseinandersetzungen.

Herr Heirich, Sie sind jetzt dann im Ruhestand. Was überwiegt, das Bedauern oder die Erleichterung darüber?

Wie das so ist bei Abschieden: es gibt ein lachendes und ein weinendes Auge. Mir werden viele Menschen fehlen, mit denen ich eng zusammengearbeitet habe und mit denen wir viel auf den Weg gebracht haben. Aber es ist auch so, dass ich mich auf die wiedergewonnene Freiheit freue, aus dem Terminkorsett auszubrechen und nicht länger fremdbestimmt zu werden durch viele Verpflichtungen.

Was hat sich in der Kommunalpolitik in all den Jahren am meisten verändert?

Der Ton hat sich erheblich verändert. Er ist rauer geworden, die Auseinandersetzungen sind weniger inhaltlich, sondern persönlicher geworden. Man ist schon öfters Beschimpfungen ausgesetzt. Das gilt nicht nur für mich, sondern generell für die politisch Tätigen. Das steht in einem seltsamen Widerspruch: Das Interesse an Kommunalpolitik hat nachgelassen. Wo man als Bürger am ehesten mitgestalten kann, da beteiligt man sich am wenigsten. Die Leute sind zwar eher zu aktivieren, aber nur im eigenen Interesse – in Initiativen, für Eingaben und Petitionen. Aber die Kommunalpolitik generell erfreut sich nicht mehr dieser Zustimmung wie das früher der Fall gewesen ist.

Macht der Job an der Rathausspitze bei solcher „Aufmüpfigkeit“ der Bürger denn überhaupt noch Spaß?

Nach wie vor ist OB zu sein für mich der schönste Beruf der Welt. Ich würde es jederzeit wieder machen. Aber das Geschäft wird mühsamer. Nicht weil die Leute aufmüpfiger geworden sind, sondern weil wir eine Tendenz haben, politische Entscheidungen, die meist nach langen Diskussionen gefallen sind, nicht mehr zu akzeptieren, wenn es gegen die eigenen Interessen geht. Das haben wir beispielsweise sehr stark bei der Flüchtlingsfrage gesehen.

Sie haben Beschimpfungen erwähnt. Haben Sie sich jemals bedroht gefühlt?

Ich habe mich daran gewöhnt, dass man mit Bedrohung lebt und Ja, ich habe mich schon persönlich bedroht gefühlt. Ich kann mich an die Auseinandersetzung um die geplante Ansiedlung der Firma Hugo Boss im Großen Forst erinnern. Da sind Leute auf das Gelände gezogen und haben auf einem Scheiterhaufen die Puppe des Oberbürgermeisters verbrannt. Da kriegt man schon ein mulmiges Gefühl. Und wenn ich so manche Äußerungen in den „unsozialen“ Medien mitbekommen habe, dann fühlt man sich schon angegriffen. Das ist fast schon Alltag. Die Stimmung wird aggressiver, und Politiker werden sehr schnell persönlich massiv angegriffen, obwohl sie der Meinung sind, etwas Positives für die Allgemeinheit zu tun.

Das Ringen um den Großen Forst hat Sie in der Stadt viele Sympathien gekostet. Wäre es nicht klüger gewesen, die Äcker zu lassen und auf das Gewerbegebiet zu verzichten?

Ein ganz klares Nein. Zunächst einmal habe ich das Problem ja „geerbt“, weil die Entscheidung für das Gewerbegebiet schon vor meiner Zeit gefallen war. Und es gab keinen anderen Platz, der im Gewerbezweckverband (GZV) Wirtschaftsraum Nürtingen mehrheitsfähig gewesen wäre. Im Nachhinein kann ich zusammen mit den Kollegen im GZV sagen, es war richtig, dass wir durchgehalten haben. Es geht nicht darum, Sympathiepunkte zu bekommen, sondern das zu tun, was für eine Kommune wichtig ist.

Eine Zerreißprobe war auch das Wörth-Areal. Viele würden dort künftig lieber einen Park oder eine wenigstens nur einzeilige Wohnbebauung sehen?

Für mich war das Wichtige, diese heruntergekommene Gewerbebrache am Wörth, diesen „Unort“, zu beseitigen und eine Wohnbebauung sehr nah an der Innenstadt zu etablieren. Die Fläche schreit geradezu nach einer Bebauung. Für mich ist es auch nicht entscheidend, ob dort ein- oder zweizeilig gebaut wird. Wir haben einen Wettbewerb gemacht, und es gab eben eine Mehrheit im Gemeinderat für eine zweizeilige Bebauung. Aber ich bin nicht derjenige, der die zweizeilige Bebauung unbedingt durchsetzen will, ich muss mich nur an die Beschlussfassung des Gemeinderats halten, und die steht immer noch. Wenn er etwas anderes beschließen sollte, ist das kein Weltuntergang.

Das Klima im Gemeinderat könnte besser sein, heißt es des Öfteren.

Dem Gemeinderat in Nürtingen fehlt es an Kompromissfähigkeit. Die Verwaltung kann ja sowieso nur vorschlagen, und natürlich habe ich da einen Einfluss, aber letztlich entscheidet das Gremium. Und da habe ich den Eindruck, dass gerade in den vergangenen fünf Jahren das Klima sehr gelitten hat und es darum geht, dass Positionen durchgesetzt werden – notfalls auch außerparlamentarisch.

Woran liegt das?

Das liegt an einigen der handelnden Personen und vielleicht auch daran, dass parteipolitische Überlegungen stärker in die Kommunalpolitik eingeflossen sind. Vor 16 Jahren war die Bereitschaft größer, auch anderen Meinungen Raum zu geben. Es ist vielleicht auch ein Spiegelbild dessen, dass der Ton rauer wird. Ich bekomme aber von Kollegen mit, dass das in anderen Gemeinderäten auch so ist. Die Gemeinsamkeit, die früher die Grundlage für Entscheidungen war, gibt es so leider nicht mehr.

Was würden Sie als Erfolge hervorheben?

Da gibt es sehr vieles. Das Thema Flüchtlinge ist in Nürtingen etwa sehr gut gelöst worden. Im Großen und Ganzen haben wir die Integration gut hinbekommen. Das war eine große Gemeinschaftsleistung der Bürger mit der Verwaltung. Dann ist die wirtschaftliche Entwicklung positiv. Wir haben in den letzten zehn Jahren circa 2000 neue Arbeitsplätze geschaffen. Dann war mir die Entwicklung Nürtingens als Hochschulstadt auch sehr wichtig. Das neue Gebäude in der Sigmaringer Straße und das Medienzentrum in der Innenstadt, das im Herbst fertig wird, stärken den Standort. Dann haben wir auch viel in die Schulen investiert. Wir haben die Stadtwerke gestärkt und weiterentwickelt – Stichwort Anbindung der Gewerbegebiete mit Glasfaser, das habe ich sehr forciert. Da ist keine andere Stadt im Landkreis so gut versorgt wie Nürtingen.

Wo liegen die Herausforderungen?

Uns wird die Digitalisierung sehr beschäftigen. Wir müssen sehen, was nützt den Bürgern, und man muss Dinge ausprobieren. Dazu braucht es Mut zur Zukunft. Wir wissen alle nicht, wie das digitale Zeitalter in 10, 20 Jahren aussehen wird. Und man muss auch Mut haben, einmal Fehler zu machen. Zu glauben, es darf sich nichts ändern und es muss alles so bleiben wie es ist, ist nicht der richtige Weg. Eine andere Herausforderung ist die Landesgartenschau. Wenn wir den Zuschlag bekommen, kann das für Nürtingen eine Aufbruchsstimmung erzeugen. Der Strukturwandel ist ein weiteres Thema. Wir werden hier nach der Umstellung von der Strickereistadt zur Automobilstadt einen weiteren Strukturwandel erleben.

Was geben Sie Ihrem Nachfolger im Amt, Johannes Fridrich, mit auf den Weg?

Aus Prinzip nichts, und schon gar nicht öffentlich. Er wird sich genauso dem Wohl der Bürger und der Stadt verpflichtet sehen wie ich und das tun was richtig ist.

Bleiben Sie Nürtingen treu?

Ich werde hier in Nürtingen bleiben. Meine Frau ist als Leiterin des Mehrgenerationenhauses in Lauda-Königshofen sicher noch zwei Jahre dort. In der Zeit werde ich andere Aufgaben hier in der Stadt übernehmen. Unabhängig davon werde ich sehen, dass ich erst einmal wieder meine Gesundheit stabilisiere. Die letzten zwei Jahre waren hart. Erst eine Krebsoperation und dann ein Oberschenkelhalsbruch. Das ist noch nicht endgültig ausgestanden. Wenn es so weit ist, werde ich sondieren, was es für sinnvolle Dinge für mich zu tun gibt.