In trauter Runde wird die Tagesordnung abgearbeitet. Foto:  

Auch Jahre nach dem S-21-Volksentscheid treffen sich die Obenbleiber in Stuttgart-Degerloch noch immer einmal im Monat. Sogar den Ausstieg aus dem Bahnprojekt halten sie noch für möglich. Ein Besuch bei ihnen.

Degerloch - Ein laues Lüftchen weht durch den Garten vor dem Naturfreundehaus in Degerloch. Nach einem brütend heißen Junitag sind die Temperaturen wieder erträglich. Genau richtig für eine Hocketse auf Bierbänken mit Bier aus Plastikbechern, Trollinger und Snacks. Es scheint unwahrscheinlich, dass sich gerade hier der berüchtigte Volkszorn über das Bahn-Projekt Stuttgart 21 entladen soll. Und zornig wirkt die Obenbleiber-Runde wirklich ganz und gar nicht.

Einmal im Monat treffen sich acht bis zehn Gegner des Großprojekts in dieser grünen Idylle, um sich auf dem Laufenden zu halten und Aktionen zu planen. Derzeit sorgt sich die Gruppe vor allem um den Brandschutz. „In großer Sorge: Stuttgart 21 brandgefährlich!“ lautet die Überschrift einer Petition, die man im Laufe des Jahres dem Landtag überreichen will. Viel zu schmal seien die Fluchtwege in den Tunnels, erklärt Gerald Kampe, ein Ingenieur im Ruhestand, der die monatlichen Treffen organisiert.

„Das Projekt ist unreif“, finden die Gegner

Dabei beruft er sich auf ein anderes Gruppenmitglied, den anerkannten Brandschutzexperten Hans-Joachim Keim. Keim fehlt derzeit krankheitsbedingt in der Runde. Er hat den Brandschutz von S 21 als „Staatsverbrechen“ und „Krematorium“ bezeichnet. Gerald Kampe sagt, ihm gefalle der Stil nicht, mit dem das Projekt durchgeboxt werde. „Ich begeistere mich eigentlich für Technik, aber das Projekt ist unreif.“ Auf der kleinen Tagesordnung stehen aber auch andere Dinge, zum Beispiel die Finanzierung eines Denkmals für den Protest gegen S 21, gestaltet von dem Künstler Peter Lenk, den viele als Schöpfer der Konstanzer Imperia-Statue kennen.

Oder Äußerungen von Verkehrsminister Winfried Hermann, der jüngst im SWR laut über die Möglichkeit nachgedacht hatte, Teile des Kopfbahnhofs als „Kopfbahnhof light“ zu erhalten, um mögliche Engpässe im Zuge von S 21 abzufedern. Tenor der Runde: dem Wendehals Hermann, einst prominenter S-21-Gegner, heute als Minister Befürworter des Projekts, ist mittlerweile alles zuzutrauen.

Die Gruppe informiert regelmäßig Passanten

Auch Aktionen plant die Gruppe: alle paar Wochen baut sie einen Info-Stand an der Epplestraße auf und bringt Degerlocher Passanten auf den neuesten Stand. Aber sind die Menschen des Themas nicht längst überdrüssig? Nein, sagt Doris Zilger, eine der treibenden Kräfte hinter der Mahnwache am Hauptbahnhof. „Gerade Leute von außerhalb Stuttgarts zeigen durchgehend Interesse – bei den Stuttgartern ist das schwerer zu sagen“, so Zilger. Christian S., das jüngste Gruppenmitglied, ist überrascht, wie verschwommen das Wissen vieler Bürger sei, auch jener, die in Stuttgart lebten.

Er sei seit Kindheitstagen von Bussen und Bahnen fasziniert, so S., der kein Auto besitzt und schon 1994 gemerkt haben will, dass mit dem Projekt Stuttgart 21 etwas nicht stimmt. Und Wilfried Seuberth macht unter Freunden im Sportverein ein „resignatives Desinteresse“ am Thema aus: „Wenn sie aber merken, dass es sie selbst betrifft, ändert sich das schnell“, so Seuberth.

„Acht Gleise sind Provinz“, sagt einer

An die Fertigstellung des Projekts – offiziell soll der Tiefbahnhof Ende 2025 in Betrieb gehen – glaubt in der Runde jedenfalls längst keiner mehr. Und selbst wenn, dann weitaus weniger leistungsfähig als der alte Bahnhof. „Acht Gleise sind Provinz“, so Seuberth. Auch heute sei der Umstieg noch möglich, sagt Doris Zilger, auch wenn er mit steigendem Baufortschritt komplizierter werde. Die Argumente seien ja längst bekannt. „Alle Politiker kennen die Umstiegs-Konzepte, auch die Kanzlerin, aber alle ignorieren sie und legen sie zu den Akten“, so Zilger.

Resigniert klingt all das aber ganz und gar nicht – im Gegenteil. Zwar echauffiert man sich hier und da heftig, doch ans Aufgeben denkt niemand. Auch die Nicht-Ingenieure haben sich im Zuge des langjährigen Protests ein staunenswertes Arsenal an Fachbegriffen und Spezialwissen zugelegt, man fachsimpelt über Zugdurchbindungen, integrale Taktfahrpläne und die Zeit des Kalten Krieges, als noch zweimal täglich ein Zug von Stuttgart nach Prag fuhr. „Heute muss man ab Nürnberg mit dem Bus fahren“, bemerkt Christian S.

Seit den Hochzeiten des Protests 2010 hat man jedenfalls zusammengehalten, auch wenn die Gruppenmitglieder heute teils andere sind als damals. „Wir wollten auch nach der Volksabstimmung Kontakt halten“, sagt Mitglied Rainer Puschner. Bei dieser Beharrlichkeit nähme es nicht wunder, wenn die Degerlocher Obenbleiber auch nach 2025 noch ab und an zusammenträfen.