Wir hätten die Frau, die anonym bleiben soll, gerne gefragt, was sie zum Alkohol zieht und warum sie in Steinenbronn bekannt ist wie ein bunter Hund. Stattdessen wird sie von der Polizei verhaftet. Mal wieder. Foto: Mauritius

Die Gemeinde will sie in die Psychiatrie einweisen lassen. Ihr Anwalt versucht, sie ins Gefängnis zu bringen. Die Obdachlose, von der die Rede ist, hat mehr als 50 Ordnungswidrigkeiten und Straftaten begangen. Ein Fall, der Grenzen sprengt.

Steinenbronn - Die Frau, die gerne mal nackt den Verkehr regelt, ehe sie auf dem Gehweg einschläft, liegt auf dem Boden. Die zwei Polizistinnen, die sie eben nach einer kurzen Verfolgungsjagd gestellt haben, lassen die Handschellen einrasten, führen sie zu ihrem Auto und schieben sie auf die Rücksitzbank. „Wir nehmen sie in Gewahrsam“, sagt eine der beiden Beamtinnen. Für Peter Heger und Werner Bolschetz kommt das nicht überraschend. Beide waren mit ihr verabredet, damit sie mit dem Journalisten sprechen kann, der eben Zeuge ihrer Verhaftung wurde. Beide wissen, wie sie ist, wenn sie trinkt. Beide ahnten schon ein paar Minuten vorher, was passieren würde, als sie die Frau die Schönaicher Straße entlangtorkeln sahen. Dass sich mal wieder ein Stau auf der Straße bilden würde. Dass sie wieder pöbeln würde. Und dennoch setzen sich beide für die Frau ein, die in Steinenbronn ob ihrer Eskapaden so bekannt ist wie ein bunter Hund. Heger aus beruflichen Gründen, Bolschetz, weil er gerne hilft.

Wie viele Straftaten und Ordnungswidrigkeiten der Frau zur Last gelegt werden, ist nicht klar. Seit 2015 führt zumindest die Gemeinde, die für die Unterbringung der obdachlosen Frau zuständig ist, akribisch Buch über Anzeigen. Mehr als 50 Einträge füllen ihre Akte: Beleidigungen, gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr, Nötigungen, Sachbeschädigungen und Widerstand gegen Polizisten. Neulich brannte es in der Unterkunft, in der sie untergebracht war. Die Ursache ist nach wie vor unklar. Die Polizei ermittelt wegen fahrlässiger Brandstiftung.

Seit 2015 ist die Frau obdachlos und lebt in Notunterkünften

Gerne hätten wir sie dazu befragt. Zu ihrem Leben. Zu ihrer Vergangenheit. Zu ihren Wünschen für die Zukunft. Aber „ein richtiges Gespräch ist heute nicht möglich“, sagt Heger, der Anwalt ist und vom Amtsgericht Böblingen als ihr Betreuer bestellt wurde. Er verwaltet ihre Finanzen und organisiert Hilfen – diese allerdings bisher vergeblich. „Sie war neulich trotz Verbots auf dem Dorffest und auch da halb nackt“, sagt Heger.

Weil sie es selbst nicht kann, erzählt Heger aus dem Leben der Frau. Ihr richtiger Name soll hier nicht stehen, um sie zu schützen. Sie stammt aus Osteuropa und lebt seit einiger Zeit in Steinenbronn. Seit Oktober 2015 hat sie keine eigene Wohnung mehr und lebt in Notunterkünften der Gemeinde. Diese ist verpflichtet, ihr die Bleibe zu bieten. Das, freilich, ist kaum mehr als ein Lebenslauf. Über die Seele verraten diese Dinge nichts. Es gebe Tage, an denen man normal mit ihr reden könne. „Wenn sie nüchtern ist, ist sie ein ganz anderer Mensch“, sagt Heger.

Bolschetz, der andere Mann, der ihr helfen will, zeigt auf sein Auto. Auf der Rücksitzbank liegt ein Hund und schläft. „Es ist ihr Hund. Über den haben wir uns kennengelernt, als sie mit ihm ging und ich Rad fuhr“, erzählt der Rentner. Nun kümmert er sich um den kranken Hund und so gut es geht um dessen Herrin. „Ich fahre mit ihr einkaufen“, sagt er und schiebt hinterher: „Aber nur, wenn sie nüchtern ist, sonst ist sie zu aggressiv und randaliert im Auto.“

Bolschetz setzt auf klare Regeln. Dazu gehört, dass die Frau beim Einkaufen keinen Alkohol mit ins Auto bringt. Am liebsten wäre es ihm, wenn die knapp 50-Jährige ganz die Finger vom Alkohol lassen würde. „Sie trinkt mal zwei Stunden nicht“, bringt es Bolschetz auf den Punkt. Ihre Einrichtung in der früheren Unterkunft habe gelitten. „Als sie eingezogen ist, funktionierte alles“, weiß Bolschetz. Doch dann habe sie immer mehr demoliert: die Tür, das Waschbecken und den Herd. „Als ich sie dort besucht habe, hatte sie Hähnchenschlegel im Ofen. Doch die Tür vom Backofen war ab“, nennt Heger ein Beispiel.

Ein ganzes Wochenende lang schreit die Frau

Die Gemeinde würde sie am liebsten in die Klapse schicken. Schließlich randaliert sie ja in Wohnungen der Gemeinde. „Wir haben immer wieder veranlasst, dass sie stationär in die Psychiatrie eingewiesen wurde“, sagt Bürgermeister Johann Singer. „Dort war sie mehrere Wochen.“ Danach galt die Frau als geheilt. „Wir haben 2015 und 2016 vergeblich einen Prozess geführt, weil wir beantragt hatten, dass sie dauerhaft in die Psychiatrie eingewiesen wird“, sagt Singer. Auch der Versuch, sie als Bürgerin eines osteuropäischen Landes auszuweisen, war zum Scheitern verurteilt. Der Entzug des EU-Rechts auf Freizügigkeit sei aus rechtlichen Gründen nicht möglich. „Dieser Fall sprengt absolut alle Grenzen. In dieser Dimension hatten wir das noch nie“, sagt Singer.

Nicole Wartbiegler lebt an der Sonnenhalde oberhalb der Wohnung der Frau. An einem Wochenende im Juli hörte sie Schreie. „Das ging Samstag und Sonntag den ganzen Tag und hörte sich so an, als käme es aus dem tiefsten Inneren.“ Wartbiegler wusste nicht, ob jemand Hilfe brauchte oder wütend war. Heute weiß sie, dass die Frau so schrie. „Ich wusste einfach nicht, wie ich reagieren sollte“, erinnert sie sich. Weil sie das beschäftigt hat, rief sie bei der Gemeinde an. „Ich wollte wissen, was los ist und wie es jetzt weiter geht“, sagt Wartbiegler. Sie bekam die Auskunft, was die Gemeinde alles getan hat, um die Situation zu lösen. Wartbiegler hat den Eindruck, dass die Frau sich und andere gefährdet, etwa wenn sie auf die stark befahrene Schönaicher Straße läuft. „Neulich lag sie neben der Straße auf dem Seitenstreifen und schlief“, sagt die Anwohnerin.

Eine Einweisung in die Psychiatrie ist nicht so einfach

Simon Römmich, der Ordnungsamtsleiter von Steinenbronn, kann ebenfalls die eine oder andere Geschichte erzählen. Kritik, dass es keine gute Idee sei, die Frau an der viel befahrenen Schönaicher Straße unterzubringen, weist er zurück: „Als sie noch woanders gewohnt hat, stand sie mal mit zwei Promille Alkohol im Blut auf der L1208 und hat versucht, den Verkehr zu regeln.“ Das Argument, dass sie sich und andere etwa im Straßenverkehr gefährde, reicht nicht aus, um sie in der Psychiatrie dauerhaft wegzusperren. Das sieht auch der Gerichtspsychiater Frank Reuther so. „Das sind alles keine relevanten Straftaten“, sagt er. Die Hürden, jemanden gegen seinen Willen in die Psychiatrie zu bringen, seien sehr hoch. Es gebe drei Gesetze, nach denen es möglich wäre. „Nach Paragraf 63 Strafgesetzbuch ist es nur nach schweren Straftaten, wie Vergewaltigung und Tötung möglich“, sagt Reuther. Das Psychischkrankengesetz BW erlaube dies nur, wenn sich jemand umzubringen drohe. Und Paragraf 1906 des Bürgerlichen Gesetzbuchs gelte als Grundlage für ein Betreuungsgericht, wenn jemand psychisch krank sei und seinen Willen nicht äußern könne oder Gefahr bestehe, dass sich die Person töte oder jemand anderem einen schweren Schaden zufüge. Nichts treffe auf die Frau zu. „Sie fällt durch Kleinkriminalität und Lästigkeit auf“, sagt Reuther.

170 Tage Knast gleich 170 Tage ohne Alkohol

Inzwischen setzt Heger, ihr Anwalt, auf eine ungewöhnliche Methode. „Die Ersatzfreiheitsstrafe von 170 Tagen ist ihre letzte Chance. Das bedeutet, dass sie 170 Tage nicht an Alkohol kommt.“ Sie war nämlich wegen verschiedener Delikte zu einer Gesamtstrafe von 1700 Euro verurteilt worden. „Die Idee war, dass sie diese mit Sozialstunden abarbeitet. Aber das funktioniert nicht.“ Eigentlich müsste ihm als Betreuer eher daran gelegen sein, eine Haftstrafe abzuwenden. „Aber wir haben schon alles versucht.“ Sie arbeite nicht mit und halte sich nicht an Absprachen. Sie habe auch immer wieder gesagt, dass sie nicht in eine Einrichtung gehe. „Sie sagt mir immer wieder, dass sie ihre Freiheit will.“

Vielleicht ist also die neuerliche Eskapade, als sie nach einer kurzen Verfolgungsjagd auf der Schönaicher Straße von den zwei Polizistinnen festgenommen wird, der Ausgangspunkt eines halbjährigen Entzugs. Noch in derselben Nacht jedenfalls meldet sich ihr Anwalt per Mail. Er schreibt, dass seine Klientin „zu einer gegen sie heute anberaumten Strafverhandlung gebracht und dort Haftbefehl gegen sie erlassen worden sein soll“. Diese Information habe er von der Polizei bekommen. Heger beendet seine E-Mail mit dem Satz: „Momentan sitzt sie in Böblingen in der Polizei-Ausnüchterungszelle.“