Hier an der Ecke Am Kührain/Steinengrabenstraße hat sich die bluttat am 4. Juli 2019 ereignet. Foto: 7aktuell.de/Daniel Jüptner

Im Messerstecher-Prozess versucht die Richterin herauszufinden, weshalb sich ein 19-Jähriger durch ein T-Shirt mit der Aufschrift „Nürtinger Hurensöhne“ dermaßen aufregte, dass er zustach. Der Stich verfehlte Milz und Niere nur knapp.

Nürtingen/Stuttgart - Das Wort Hurensohn ist eine Beleidigung. Allerdings eine, die heute schon fast alltäglich ist, wie die Vorsitzende Richterin im Nürtinger Messerstecher-Prozess am Landgericht Stuttgart, Cornelie Eßlinger-Graf, befand. Warum also geriet ein 19-Jähriger, der wegen versuchten Mordes angeklagt ist, am vergangenen 4. Juli wegen eines T-Shirts mit dem Schriftzug „Nürtinger Hurensöhne“ dermaßen in Rage, dass er einen 27-Jährigen, der dieses T-Shirt trug, mit einem Messerstich schwer verletzte?

Eine Antwort auf diese Frage blieb der 19-Jährige in der Verhandlung am Donnerstag schuldig. Sein Verteidiger versuchte das Ausrasten seines Mandanten damit zu erklären, dass sich die Situation an jenem Tag „hochgeschaukelt“ habe. Täter und Opfer saßen sich im Zug von Stuttgart nach Nürtingen gegenüber.

Täter und Opfer kannten sich nicht

Der 19-Jährige fühlte sich von dem Schriftzug – einem Songtitel der Nürtinger Punkband Roidige Hunde, in welcher der 27-Jährige gespielt hatte – provoziert. Im Zug geschah nichts, äußerlich blieb der 19-Jährige ruhig. Doch in Nürtingen angekommen, machte er sich auf die Suche nach dem ihm völlig unbekannten T-Shirt-Träger – zusammen mit vier Freunden im Alter von heute 15 bis 17 Jahren, die ebenfalls angeklagt sind.

Am Kührain, am Rand der Nürtinger Innenstadt, holte die Gruppe den 27-Jährigen schließlich ein, der 19-Jährige stach unvermittelt auf das Opfer ein und versetzte ihm einen Tritt ins Gesicht. Außerdem hat ein mitangeklagter 17-Jähriger zugegeben, dem Verletzten noch gegen das Bein getreten zu haben.

Angeklagte identifizieren sich stark mit Nürtingen

Laut dem Verteidiger des 19-Jährigen sei der ursprüngliche Plan gewesen, dem Träger des T-Shirts „eine jugendtypische Abreibung zu verpassen“. Sein Mandant habe dann im weiteren Verlauf „nicht überrissen, wie gefährlich die Situation ist“, so der Rechtsanwalt.

Am Donnerstag wurde unter anderem auch der Leiter der Ermittlungsgruppe Kührain als Zeuge gehört. Dem Kriminalbeamten zufolge gibt es in Nürtingen, aber auch in anderen Kommunen im Kreis Esslingen, „eine starke Identifikation mit der Heimatstadt“. Er gehe davon aus, dass sich die Angeklagten durch das T-Shirt „in der Ehre gekränkt gefühlt haben“. Für die Vorsitzende der 4. Großen Strafkammer, Cornelie Eßlinger-Graf, blieb dennoch nicht nachvollziehbar, warum der 19-Jährige zugestochen hat.

Akute Lebensgefahr hat nicht bestanden

Im Gerichtssaal erläuterte am Donnerstag zudem eine Rechtsmedizinerin die Verletzungen, die der 27-Jährige davongetragen hat. Eine Autofahrerin hatte den Schwerverletzten nach der Tat ins Nürtinger Krankenhaus gefahren. Laut der Sachverständigen wies der 27-Jährige im unteren bis mittleren Bereich des Rückens links neben der Wirbelsäule eine circa vier Zentimeter breite und circa acht Zentimeter tiefe Stichwunde auf. Der Verletzte hatte zwar Blut verloren, sein Kreislauf sei aber stabil gewesen. „Es bestand keine akute Lebensgefahr“, so die Gutachterin. Das heute vor allem noch psychisch unter den Folgen der Tat leidende Opfer hatte Glück, dass der Stich Milz und Niere verfehlte und auch kein größeres Blutgefäß getroffen wurde.

Das Opfer nimmt die Entschuldigung der Täter nicht an

In der Verhandlung äußerten zwei Angeklagte noch einmal ihr tiefes Bedauern über die Tat. Der 19-Jährige hatte bereits zuvor dem 27-Jährigen 5000 Euro Entschädigung angeboten. „Mein Mandant hat lange überlegt, wie er damit umgeht“, sagte die Vertreterin der Nebenklage. „Er ist zu dem Schluss gekommen, dass er die Entschuldigung und daher auch den Geldbetrag nicht annehmen kann.“