Einen Kaiman kann man töten – oder den Touristen zeigen. Beides bringt den Bewohnern am Rio San Juan Geld. Foto: Markert

Warum bloß wollen alle nach Costa Rica? Das Nachbarland Nicaragua hat genauso schöne Regenwälder.

Ein gezielter Griff in die schwarze Nacht, ein kurzer, harter Kampf. Dann zieht Juan Aguilar seine Beute mit bloßen Händen aus dem Schilf und watet mit nackten Füßen durch den Fluss zurück zum Boot. Im Schein der Stirnlampe darf die Besatzung die Beute prüfen: scharfe Zähne, große wache Augen, ein erstaunlich harter Panzer. "Das ist ein Kaiman. Sie jagen nachts, weil sie schlafende Vögel fressen und dafür bis zu zwei Meter aus dem Wasser springen können", erläutert Aguilar. Dann lässt er den mit einem Meter recht kleinen Krokodil-Verwandten wieder im dunklen Rio San Juan abtauchen. "Wir sind ja keine plündernden Piraten."

Verkneifen kann sich Juan Aguilar diesen Seitenhieb in Richtung seiner europäischen Schiffsbesatzung nicht. Denn nächtliche Beutezüge haben am Grenzfluss zwischen Costa Rica und Nicaragua eine lange Tradition – auch wenn es dabei nicht unbedingt um Kaimane ging.

Während er das kleine Boot zielstrebig über den dunklen Fluss jagt, erzählt Aguilar von den spanischen Kolonialmächten, die im 16.Jahrhundert Silber, Kakao und Tabak in der heute noch prächtigen Kolonialstadt Granada auf ihre Schiffe luden. Von dort ging es quer über den Nicaragua-See zur Mündung des Rio San Juan. Auf 200 Kilometer Länge schlängelt sich dieser mitten durch den Regenwald bis ins Karibische Meer und damit in den Atlantik, der Verbindung zu Europa.

"Es dauerte nicht lange, bis auch Piraten wie Henry Morgan den Durchgang über den Rio San Juan entdeckten", sagt er. Und so wurde Granada mehrfach geplündert und abgebrannt, bevor die Spanier 1673 ihrerseits reagierten. "Das Ergebnis war die Festung hier in El Castillo", sagt Aguilar, während er sein Boot unterhalb der Pfahlbauhäuser festmacht, die das Dorf zum Fluss hin säumen.

Wer bei Tag durch den 3000-Seelen-Ort schlendert, fühlt sich in eine andere Zeit versetzt. Und das nicht nur wegen der Ruine des "Castillo de la Inmaculada Concepción", die hoch über dem Dorf thront und erahnen lässt, wie die Spanier von dort Piratenschiffe versenkten. Es liegt vor allem an den Dorfbewohnern.

Stundenlang könnte man ihnen dabei zuschauen, wie sie ihm Fluss ihre Wäsche waschen, von handgeschnitzten Einbäumen aus Fische fangen, die Bohnen für das Nationalgericht Gallo Pinto auslesen, sich für ein Schläfchen in eine bunte Hängematte einwickeln. Einzig die leuchtend roten Satellitenschüsseln, die auch die ärmlichste Wellblechhütte schmücken, holen einen zurück ins 21. Jahrhundert.

Den selbst ernannten Piratenkönig Henry Morgan? Kennt die 15-jährige Elena nicht, die mit ihren Eltern, vier Geschwistern, Hühnern und Schweinen in einer solchen Zweizimmerhütte lebt. Aber bei Johnny Depp und "Fluch der Karibik" gerät ein Mädchen auch mitten im Regenwald ins Schwärmen.

Sobald mal eins der Taxi-Boote in El Castillo anlegt, wird jedes Fernsehprogramm langweilig. Spätestens wenn die Koffer verräterisch über den Asphalt holpern, steht das halbe Dorf Spalier, um die seltenen Besucher neugierig zu mustern. Kurz kommt in einem das Gefühl auf, dass dieser ursprüngliche Flecken nicht von Kameras erobert werden möchte. Aber dafür ist der Empfang zu herzlich, die modernen Piraten zu willkommen. Schließlich rauben sie kein Gold, sondern bringen Geld. Wenn sie denn kommen.

Abgeschreckt durch die Armut, eine schlechte Infrastruktur und die noch nicht verblassten, brutalen Bilder vom Bürgerkrieg in den 1980er Jahren, zieht es die meisten Touristen nach wie vor eher ins wohlhabendere und sicherer erscheinende Costa Rica.

"Dafür gibt es bei uns eigentlich viel mehr zu sehen. Wir haben die gleiche Natur und dazu noch eine uralte Geschichte", sagt Jeannette Mairena, 29. Sie arbeitet beim nationalen Tourismusinstitut der Hauptstadt Managua. Eine ihrer Aufgaben ist es, den Rio San Juan für den Tourismus zu erschließen, damit die Dorfbewohner neue Möglichkeiten zum Geldverdienen bekommen. "Dafür müssen sie erst einmal lernen, wie man mit Touristen umgeht, warum sie unser Wasser nicht vertragen, wie sie verdientes Geld in den Ausbau von Zimmern investieren oder wie man eine Führung im Regenwald macht."

Bisher kennen nur wenige Bewohner all die Lebewesen im Fluss und dem umliegenden Regenwald mit Namen und können den Besuchern ihre Besonderheiten erzählen. Zwei von ihnen sind Juan Aguilar und sein Bruder Manuel. Bevor das Tourismusinstitut sie als Führer engagiert hat, töteten die Brüder Kaimane und andere Tiere, um sie zu verkaufen und so ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Nun kümmern sie sich um den Schutz der Tiere.

"Am Rio San Juan liegen zehn Prozent des weltweiten Regenwaldes, und darin wiederum leben 80 Prozent aller Tierarten. Es gibt allein über 500 Vogelarten – so viele wie in ganz Europa." Der Rest der Erklärung geht im lauten Dröhnen des Motors unter, mit dem Aguilar das Boot flussabwärts zum Naturschutzgebiets Reserva Biológica Indio Maiz steuert, das etwa eine halbe Bootsstunde von El Castillo entfernt liegt. Es ist eines von neun ausgewiesenen Naturschutzgebieten, die Nicaragua seit 1997 einrichtet, um den Tourismus von Beginn an mit dem Umweltschutz in Einklang zu bringen, aber auch, um die Natur vor der Rodung durch Einheimische zu schützen.

"Primärwald gibt es hier trotzdem schon lange keinen mehr. Viele alte Bäume wurden abgeholzt, als die Kolonialmächte Holz brauchten, um ihre Dampfschiffe zu beheizen. Geplündert haben eben nicht nur die Piraten." Dann taucht Manuel Aguilar durch einen grünen Vorhang aus Bananenstauden, Farnen und Lianen im Urwald ab. Endlich hat die schwül-feuchte Luft, die man sonst nur aus dem Tropenhaus im Zoo kennt, auch optisch ihre Berechtigung.

Affen schnattern, Papageien kreischen, dann ertönt menschliches Triumphgeschrei. Auf Aguilars flacher Hand sitzt ein winziger rot-blauer Frosch. "Die Rama, ein indigenes Volk, das hier in der Nähe noch im Regenwald lebt, jagt bis heute noch mit dem Gift der Pfeilgiftfrösche." Unangemeldet besuchen sollte man die 15 Familien, die eine eigene Sprache sprechen und sich von Fremden schnell bedroht fühlen, also nicht unbedingt.

Zärtlich setzt Aguilar den knalligen Frosch fürs Foto wieder auf ein Farn und hebt warnend den Zeigefinger. Aber von den neuen Piraten hat keiner Lust auf die giftige Beute. Geplündert wird heute nur noch mit der Kamera.

Nicaragua

Anreise
Es gibt keine Direktflüge nach Nicaragua. KLM fliegt von Frankfurt über Amsterdam nach Panama City. Von dort geht es mit Copa Airlines nach Managua.

Reisezeit
Trocken und noch nicht zu heiß ist es von Dezember bis Februar. Ab Mai beginnt die Regenzeit, inklusive Überschwemmungen und Hurrikane.

Preise
Ein Euro entspricht etwa 32 Córdoba Oro. Am besten nimmt man US-Dollar in kleinen Scheinen mit. In großen Städten kann man damit problemlos zahlen.
Tasse Kaffee45 Cent
Hühnereintopf mit Gemüse1,80 Euro

Unterkunft
Es gibt inzwischen einige Hotelanlagen vor allem ausländischer Investoren, die sich am gehobenen westlichen Niveau orientieren. Mitten im Regenwald und am Pazifik liegt etwa die Eco-Lodge Morgans Rock, www.morgans-rock.com; Granada: Hotel
Dario, www.hoteldario.com. Einfacher und familiärer geht es in touristisch noch weniger erschlossenen Regionen wie in El Castillo zu: Hotel Victoria, www.hotelvictoriaelcastillo.com.

Was Sie tun und lassen sollten
Auf jeden Fall Grundkenntnisse in Spanisch haben, zumindest wenn man auf eigene Faust unterwegs ist. Frische Bananen, Mangos und Ananas essen – so schmeckt Obst nur, wenn es im Land gereift ist.
Auf keinen Fall Wasser aus der Leitung trinken oder Getränke mit Eiswürfeln. Das Wasser ist entweder stark gechlort oder enthält viele Bakterien, beides mögen europäische Mägen nicht. Wer ohne Reisegruppe unterwegs ist, sollte sich vorher gut informieren, an welchen Orten es wie sicher ist und nachts besser nicht allein spazieren gehen. In Taxis kommt es häufig zu Raubüberfällen, ebenso an Busbahnhöfen und anderen touristischen Zonen.

Allgemeine Informationen
www.riosanjuan.com/ni
www.riosanjuan.info
www.visitanicaragua.com