Vom Eugensbrunnen bis zum Interimstheater: Die Neujahrskarte für 1903 zeigt Stuttgarts Sehenswürdigkeiten der damaligen Zeit. Foto: Sammlung Wolfgang Müller

Über den gefrorenen Neckar rutschten Eisläufer, vorm Rathaus wartete eine Kutsche: Mit bunten Stadtansichten haben Stuttgarter einst ihre Glückwünsche zum neuen Jahr verschickt. Die Karten zeigen, worauf man stolz war.

Stuttgart - Michael Horlacher, Facebook- Kommentator unseres Stuttgart-Album, muss gute Augen haben – oder eine gute Lupenfunktion auf seinem Rechner. Auf der Neujahrskarte, die das winterliche Treiben auf dem Neckar bei der König-Karl-Brücke zeigt, hat er einen Mann entdeckt, der sich bückt und etwas auf dem Boden erledigt. „Auch zu dieser Zeit mussten Hundehäufchen entsorgt werden“, schreibt Horlacher.

Was Benjamin Bamberger auf dieser gezeichneten Neckarkarte – sie stammt aus der Sammlung von Wolfgang Müller, dem Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft Stadtgeschichte – außerdem auffällt: „Knöchelfrei war noch out, Schneemänner hatten zwei Arme, und die Herrschaften waren viel zu dünn angezogen.“ Zur Kleidung bemerkt Wibke Wieczorek: „Die hatten aber sicher wärmere Schlüpfer an als heute.“ Harald Frank gibt ihr Recht: „Der Stringtanga war damals noch gänzlich unbekannt.“

Alte Grußkarten erzählen Geschichten

Viele Jahre vor Instagram, Facebook und Co. brauchten man Zeit, um sich aufs neue Jahr vorzubereiten. Erst mussten Karten für die Freunde gekauft werden, dann galt es, die Post Tage vor Silvester abzuschicken, damit sie rechtzeitig ankommt. Mit einem Klick, Rundmails oder WhatsApp-Nachrichten zu verschicken, war’s nicht getan.

„Herzlichen Glückwunsch zum neuen Jahr sendet Karl Zing“, steht unter der Jahreszahl 1903 in akkurater Sütterlin-Schrift. Damals durften Postkarten nur auf der Vorderseite beschrieben werden. Bis 1905 gehörte die Rückseite allein der Postadresse und der „Freimachung“, wie zu lesen war.

Alte Grußkarten erzählen Geschichten. Wer die Fotos in den verzierten Zahlen der 1903er Karte des Herrn Zing genau betrachtet, erkennt, worauf die Menschen in Stuttgart damals sehr stolz gewesen sind. Die Sehenswürdigkeiten also waren: Eugensbrunnen, Nachtwächterbrunnen, Johanneskirche, Schlossplatz – und das Interimstheater.

In neun Monaten ließ der König ein Interimstheater bauen

Was sich doch alles wiederholt! Wegen der dringend notwendigen Sanierung des Opernhauses braucht Stuttgart erneut eine Interimslösung. Die Ausgangslage vor über 100 Jahren war eine andere: Im Januar 1902 war das Hoftheater, das sich an jener Stelle befand, auf dem heute der goldene Hirsch über dem Kunstgebäude thront, abgebrannt. In nur neun Monaten ließ König Wilhelm II., ein Freund der Künste, auf dem Platz des heutigen Landtags ein Ersatztheater bauen. Bis 1912 war das Provisorium die Heimat der Bühnenwelt, ehe das Doppeltheater nach den Plänen von Max Littmann fertig war – mit Großem Haus und Kleinem Haus, wie man zur Oper und zum Schauspiel sagte.

Was auf der Karte mit der Kutsche als „neues Rathaus“ bezeichnet wird, ist, aus unserer heutigen Sicht betrachtet, natürlich das alte. Von 1901 bis 1905 ist es im Stil der flämischen Spätgotik erbaut worden. Im Jahr 1944 brannte der Vorgängerbau des heutigen Rathauses bei den Luftangriffen fast bis auf die Mauern aus. Nur Teile der beiden Seitenflügel sind erhalten geblieben. Der heutige Marktplatzflügel wurde in den 1950er-Jahren erstellt.

Prosit, Neujahr! Viel hat sich geändert in der Stadt – nicht aber der Brauch, seinen Mitmenschen ein gutes neues Jahr zu wünschen. Damals wie heute gilt: Ein Jahr ist für alle gleich lang. Und niemals weiß man vorher, was man daraus machen kann.