Die Choreografin Juliette Villemin Foto: Daniela Wolf/JV + Team

„Die Begehrenden“ heißt das neue Tanzstück von Juliette Villemin. Die in Stuttgart lebende Choreografin fragt darin, was immer mehr Regeln mit einer aufgeklärten Gesellschaft machen.

Stuttgart - „Die Begehrenden“ heißt das neue Tanzstück von Juliette Villemin. Die in Stuttgart lebende Choreografin hat sich dazu von Denis Diderots Roman „Jacques der Fatalist und sein Herr“ inspirieren lassen. In den Dialogen dieses frühen literarischen Roadmovies bindet ein Diener seinen Herren durch die Erzählung von Liebesabenteuern an sich. Wie geht eine aufgeklärte Gesellschaft heute mit dem Begehren um? Das will Villemin mit einem Tänzerpaar und einem Schauspieler herausfinden. Premiere ist am 28. September im Theaterhaus.

Frau Villemin, zu Ihrem neuen Tanzstück hat Sie „Jacques le fataliste“ inspiriert. Was reizt eine Choreografin an Diderots Roman?

Mich hat der Autor selbst und seine Position zum Theater fasziniert, die darin anklingt. Diderot geht es um die Authentizität des Darstellens, das ist ein nach wie vor aktuelles Thema. Persönlich war er ein Freidenker, dem aber auch wichtig war, tugendhaft zu leben. Sein Lebensthema war die Frage, wie man Leidenschaft und Tugend zusammenbringt. Auch heutige Autoren, die sich wie Carolin Emcke mit dem Begehren auseinandersetzen, suchen Antworten.

Wir leben in einer konsumgeprägten Zeit und sind gewohnt, dass sich Wünsche schnell erfüllen. Das Begehren hat es da schwer, oder?

Das ist eine der zentralen Fragen, die uns beschäftigt. Wird das Begehren heute vom Konsumwahn ferngesteuert? Was passiert damit, wenn alles auf Knopfdruck verfügbar ist in einer Gesellschaft, die immer mehr haben kann? Das Begehren führt da unter Umständen zu Konflikten und Verwechslungen. Deshalb müssen die Regeln des Zusammenlebens immer wieder neu diskutiert werden. Aber wie gehen wir damit um, dass es immer mehr Regeln werden?

Die Corona-Krise hat uns noch ein paar Regeln mehr beschert. Manche wie der Abstand müssten das Begehren doch eigentlich fördern...

Ja, das Thema Distanz ist ein sehr spannender Aspekt, der die Vorstellungskraft anregt. Gerade beim Thema sexuelle Begierde spielt die Fantasie ja eine wichtige Rolle. Ist der andere nicht da, steigert sich das Begehren. Ich habe mehrere Studien darüber gefunden, dass die Dating-Plattformen durch Corona einen Boom an Neuanmeldungen erlebt haben. Aufgrund der Abstandsregeln hat sich der Wunsch nach Kontaktaufnahme, also das Begehren, verstärkt.

Was hat das mit Jacques, dem Fatalisten, zu tun?

Im Roman weiß man nie genau, wohin Jacques Erzählen überhaupt führen wird und wohin er und sein Herr unterwegs sind. Meine Lektüre setzt das Erzählen mit dem Begehren gleich, das immer in Bewegung ist und nie am Ziel ankommt. Das Streben ist genussvoller als die Befriedigung.

Wie setzen Sie das Spiel mit Nähe und Distanz in Corona-Zeiten auf der Bühne um?

Das ist gar nicht so leicht. Und in der Fülle an Maßnahmen, die wir beachten müssen, hat jede Spielstätte noch eigene Vorgaben. Im Theaterhaus gilt für Schauspieler 1,5 Meter, für Tänzer sechs Meter Abstand wegen der Aerosole, die sie herumwirbeln. Es gibt einen Moment in meinem Stück, wo sich die beiden näher kommen. Dafür habe ich ihre Köpfe wie beim Paar auf Magrittes Gemälde „Die Liebenden“ mit Tüchern verhüllt.

Premiere am 28. September, 20 Uhr, im Theaterhaus im Saal T3. Weitere Vorstellungen am 29. und 30. September