Die Personalkarte von Karapett Ossepjan: der „Sterbefall“ vom 15.9.1944 Foto:  

75 Jahre nach den Greueln im KZ Hailfingen/Tailfingen gelang es Volker Mall von der Gedenkstätteninitiative erstmals, die Identität zweier Zwangsarbeiter aus der Gruppe der Kriegsgefangenen zu klären.

Gäufelden - Sie lassen ihn immer noch nicht ruhig schlafen, die schrecklichen Vorkommnisse im ehemaligen KZ-Außenlager Hailfingen/Tailfingen. Volker Mall hat sich auf die Spuren derer geheftet, die dort interniert waren. Sie kamen aus aller Welt, viele wurden ermordet. Vor kurzem ist er auf die Namen zweier Kriegsgefangener gestoßen, auf den Armenier Karapett Ossepjan und den Pakistani Mardan Desil. Sie gehörten zu den rund tausend Gefangenen und Zwangsarbeitern, über die bisher wenig bekannt war – im Gegensatz zu den 601 jüdischen KZ-Häftlingen, deren Namen Harald Roth, der Forscherkollege Malls, in einem Nummernbuch im Staatsarchiv in Ludwigsburg ermitteln konnte.

Sie trugen alte sowjetische Uniformen und Holzschuhe

Das Lager der sowjetischen Kriegsgefangenen auf Tailfinger Markung des Flugplatzgeländes, das die Zwangsarbeiter ausbauen mussten, war mit Stacheldraht umzäunt. Zehn bis zwölf Infanteriesoldaten der Wehrmacht bewachten die Gefangenen, die vor allem in den umliegenden Steinbrüchen arbeiteten. Der griechische Zwangsarbeiter Eduard Rock-Tabarowski beobachtete, dass Anfang 1945 etwa 100 bis 120 Soldaten der Roten Armee in einer einstöckigen Baracke untergebracht waren und die wachhabenden Infanteriesoldaten Bajonette auf ihren Gewehren aufgepflanzt hatten. Unterkunft und Ernährung waren völlig mangelhaft. Bekleidet waren die Gefangenen mit alten sowjetischen Uniformen und trugen allenfalls Holzschuhe.

Das „Kommando Tailfingen“ war einem Strafgefangenenlager in Villingen zugeordnet. Von dort wurden die Zwangsarbeiter nach Tailfingen abkommandiert. Viele litten bei der schweren Arbeit an Entkräftung, einige ließen ihr Leben. Manche kamen vermutlich ins Tübinger Kriegsgefangenenlazarett oder in die Anatomie. Als Todesursache wurde häufig Lungen TB, Tuberkulose, oder „unbekannt“ angegeben.

„Erschossen aus Ungehorsam“

Ein Mitarbeiter des Forscherduos Mall/Roth, Johannes Kuhn, spürte eine Zeitzeugin auf, die ihm berichtete, dass sie im Herbst 1944 bei Hailfingen gesehen habe, wie ein Gefangener während eines Marsches vom Flugplatz kommend einen Apfel habe aufheben wollen. Ein Wachmann habe ihn erschossen, „einfach so“. Vermutlich handelte es sich um Karapett Ossepjan, der am 15. September 1944 ermordet und auf dem Friedhof in Hailfingen beerdigt wurde. Im Oktober 1949 betteten ihn die französischen Besatzer in ein Sammelgrab auf den Friedhof Gänsewag auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz in Münsingen auf der Alb um. Im Exhumierungsprotokoll, unterschrieben vom Chef du Convoi, dem damaligen Transportleiter G. Duval, sowie vom damaligen Hailfinger Bürgermeister Hammer, ist als Todesursache zu lesen: „Erschossen wegen Ungehorsam.“

Um das aufzudecken, hatte Volker Mall zwei Jahre lang unzählige Archive angeschrieben, auf russischen Friedhöfen nachgeforscht, selbst Zeitzeugen befragt und war schließlich in diesem Januar in der Datenbank OBD Memorial des russischen Verteidigungsministeriums fündig geworden: Dort entdeckte er die Personalkarte von Ossepjan. Laut dem Wehrmachtsdokument kam er im Juni 1941 in Zerkow (Polen) in deutsche Kriegsgefangenschaft. Mitte 1942 wurde er „Legionär“, Angehöriger der Wehrmacht, später jedoch wurde er ausgeschlossen mit der Begründung: „ausgesprochen bolschewistische Gesinnung“. Danach durchlief er diverse Lager, bis er ebenfalls nach Villingen kam und zum Arbeitseinsatz nach Tailfingen eingeteilt wurde. Außer den rund 200 Russen verrichteten dort noch etwa 400 Griechen Zwangsarbeit wie auch „zahlreiche französische Kriegsgefangene sowie 300 bis 400 Inder aus der britischen Armee“, sagt Mall.

Britischer Ex-Außenminister gibt den entscheidenden Tipp

Im Januar vorigen Jahres stöberte eine Archivarin im Rathauskeller von Gäufelden-Öschelbronn eine Gräberliste auf. Darin stehen Namen der Kriegstoten, die einst der britischen Armee angehörten. Der erste auf der Liste mit dem Todesdatum 31. März 1945 ist Mardan Desil, der aus Pakistan stammte. Mall stieß schließlich – vermittelt durch den ehemaligen britischen Außenminister David Miliband, dessen Großvater ebenfalls im KZ Hailfingen-Tailfingen ermordet wurde – auf eine Publikation. „Laut einem der Verfasser, Steve Rothwell“, so Mall, „gehörte Desil einem Bataillon an, das der British Indian Army untergeordnet war und auch in Nordafrika kämpfte, wo er vermutlich 1942 in italienische Kriegsgefangenschaft geriet.“

Nach Italiens Kapitulation 1943 transportierten die Nazis alliierte Kriegsgefangene in deutsche Lager. Auch Mardan Desil kam später in ein Strafgefangenenlager, ebenfalls nach Villingen – und wurde von dort mit anderen indischen und pakistanischen Kriegsfangenen der britischen Armee im Februar März 1945 in einem Arbeitskommando auf den Tailfinger Flugplatz verlegt. Wie Zeitzeugen berichteten, ging es den „Indern“ nicht schlecht. Sie bekamen offenbar regelmäßig zu essen, hatten Zigaretten und seien vom internationalen Roten Kreuz versorgt worden. Sie sollen „schöne Uniformen“ und Turbane getragen haben. Eugen Schmid, der ehemalige Tübinger Oberbürgermeister, bestätigte: „Wir Kinder sind damals dorthin gegangenen, haben den Gefangenen Brot gebracht und dafür Schokolade bekommen. Daraus schlossen wir, dass sie wohlversorgt waren.“ Die „Inder“ mussten auf verschiedenen Baustellen arbeiten und beim Bau von Flugzeughallen helfen.

Alliierte Bomber visieren die Flakstellung der Nazis an

Einer von ihnen ist bei einem Fliegerangriff gestorben: Mardan Desil alias Mir Akbar. Er war an einem Bein so schwer verletzt worden, dass er seiner Verwundung erlag. Seine Kameraden beerdigten ihn am Ostermontag 1945 auf dem Friedhof in Tailfingen. Später wurde er auf den britischen Soldatenfriedhof Dürnbach am Tegernsee umgebettet. Er kam ums Leben, weil die alliierten Flugstreitkräfte in Tailfingen eine Flakstellung der Nazis ins Visier genommen hatten.

Wie viele der Zwangsarbeiter in Tailfingen ihr Leben ließen, diese Frage wird Volker Mall weiterhin beschäftigen. Die Menschen, die im KZ umkamen, werden ihn wohl nie in Ruhe lassen.

Dokumentationszentrum in Gäufelden-Tailfingen

Gedenkstätte:
Volker Mall (76) und Harald Roth (68), ehemalige Lehrer, initiierten im Jahr 2010 die KZ-Gedenkstätte Hailfingen-Tailfingen, die sich mit einem Dokumentationszentrum im Alten Rathaus in Gäufelden-Tailfingen befindet. Die beiden haben bisher die Hinterbliebenen von etwa 120 KZ-Häftlingen ermittelt und sie zu Besuchen eingeladen. Die Häftlinge gehörten zu den insgesamt 601 Juden, die einen Winter lang bis Februar 1945 im KZ Hailfingen/Tailfingen (ein Außenlager des KZ Natzweiler im Elsass) interniert waren. Die beiden Forscher gehen davon aus, das mindestens 189 von ihnen ermordet wurden.

Auszeichnungen: 
Mall und Roth erhielten 2018 von der Europäischen Kommission das Europäische Kulturerbesiegel verliehen. Außerdem wurden sie 2017 mit dem German Jewish History Award ausgezeichnet. Der Preis geht an nichtjüdische deutsche Forscher, die sich der Erinnerungsarbeit widmen.