Behutsam finden sie zueinander: Rosalie Thomass (li.) und Kaori Momoi in „Grüße aus Fukushima“. Foto: Majestic

Mit dem bewegenden Japan-Drama „Kirschblüten – Hanami“ verzauberte Doris Dörrie 2008 die Berlinale. Nun taucht sie tiefer in die japanische Kultur ein und erzählt die Geschichte einer jungen Deutschen, die vor der Kulisse der Reaktorkatastrophe mit Hilfe einer alten Geisha ihr Leben neu ordnet.

Fukushima - Ein Baum in der toten Landschaft. Das Astwerk gebrochen, ein bizarrer Solitär. Ein Schicksalsbaum. Auf einem seiner Äste hockend, hat Satomi den schrecklichen Tsunami überlebt. Yuki, ihre Schülerin, ertrank. In Visionen kehrt Yuki Nacht für Nacht zurück, singt, sitzt auf dem Baum. Satomi hält es kaum aus. Yukis wegen ist sie zurückgekehrt in die gesperrte Zone, hat ihr zerstörtes Holzhaus bewohnbar gemacht – an ihrer Seite eine deutsche junge Frau.

Freitag, 11. März 2011, 14.46 Uhr. Ein Erdbeben der Stärke 9 erschüttert die Nordostküste Japans. Der dadurch ausgelöste, gewaltige Tsunami fegt über die Küsten des Archipels. Fünf Stunden später gibt die japanische Regierung bekannt, im Kühlsystem des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi sei „ein Problem“ aufgetreten. Die Katastrophe fordert 16 000 Tote.

Ein gutes halbes Jahr danach reist die deutsche Filmemacherin Doris Dörrie in die Region Fukushima. Dort trifft sie einen Mann auf den Trümmern seines Hauses, der noch immer nicht versteht, was ihm geschah. Und sie besucht Bewohner der Temporary Housing Communities, der Notunterkünfte. In ihr reift die Idee, über das Leben nach Fukushima einen Film zu drehen, in dem sich Dörrie – anders als in ihren vorherigen Filmen mit japanischer Thematik („Erleuchtung garantiert“, Kirschblüten – Hanami“) – Japan von innen nähert.

In der Einsamkeit begegnen sich zwei Kulturen

Als europäische Zugangsperson dient die Figur der Marie, gespielt von Rosalie Thomass. Sie ist groß, sie ist blond, sie ist viel zu laut – „du bist ein Elefant“, sagt Satomi zu ihr. „Und du bist elegant“, sagt Marie. Doris Dörrie hat die Rolle der Satomi mit Kaori Momoi besetzt, einer Kinolegende, die schon 2006 in Rob Marshalls Film „Die Geisha“ Eleganz und Tradition verkörperte. Marie und Satomi, das ungleiche Paar, begegnet sich in einem Dorf aus Notunterkünften – noch immer leben mehr als 300 000 Menschen, verteilt über das Land, in Provisorien.

Marie kommt mit einer Hilfsorganisation als Clown, um die Menschen – es sind vor allem Alte – aufzuheitern. Das wirkt bemüht und vergeblich wie Bastelaktionen in Senioreneinrichtungen hierzulande. Satomi verweigert sich. In einer Nacht-und-NebelAktion verlassen beide das Camp. Marie voller „German Angst“ vor der Strahlung, Satomi, weil sie zurückkehren muss in ihr zerstörtes Dorf.

In der Einsamkeit begegnen sich zwei Kulturen. „Du isst zu viel“, herrscht Satomi Marie an, als sie nach der staubigen und traurigen Aufräumaktion ihres kleinen Hauses ein erstes gemeinsames Mahl einnehmen. Marie, die ihre langen Beine nur mit Mühe unter dem traditionellen, niedrigen Tisch halten kann, beobachtet die zierliche, anmutige Japanerin. Von ihr lernt sie, dass Tee trinken mehr ist, als Teebeutel mit heißem Wasser zu überschütten. Und dass „sich einrichten“ eine andere Dimension hat, als Möbel aufzustellen und mit Dekorationsgegenständen zu schmücken.

Behutsam nähert sich Hanno Lentz mit der Kamera

Mit Kaugummi klebt Marie den Kopf eines Buddhas auf seinen Körper, stellt ihn auf den Hausschrein der alten Dame, wundert sich über das Salz, das Satomi abends neben ihrem Schlafplatz verstreut gegen Geister. Japaner sind tiefgläubig, ihre spirituelle Welt nährt sich aus buddhistischen und schintoistischen Elementen gleichermaßen. Alles ist beseelt – Satomi war die letzte Geisha von Fukushima, Yuki ihre Schülerin. Die Figur der Satomi ist für Doris Dörrie eine Hüterin der Künste, der Tradition.

Man merkt dem Film an, dass er nicht in herkömmlicher Art gedreht wurde. Behutsam nähert sich Hanno Lentz mit der Kamera, findet in der zerstörten Landschaft Bilder von bizarrer, grafischer Schönheit. Japanischer Licht- und Schatten-Ästhetik verpflichtet, überträgt er sie in Schwarz-Weiß auf die Kinoleinwand. Dörrie hat zudem Archivaufnahmen der Fukushima-Katastrophe implantiert, auch das trägt zur Stimmigkeit dieses Kinoereignisses bei.

Im Chaos der verwüsteten Landschaft, in dem sie sich mit Provisorien eingerichtet haben, finden die beiden Frauen trotz großer kultureller Unterschiede zueinander, und der Zuschauer bekommt eine Erkenntnis geschenkt: Schmerz ist universell, auch wenn seine Äußerungen unterschiedlich sind. Marie trauert wild und unbeherrscht um eine verlorene Liebe, Satomi still und scheinbar unbewegt um ihr vergangenes Leben.

Marie lernt durch die japanische Kultur, was innere Haltung bedeutet

Schuld- und Schamgefühl bringen sie fast um: Aus Angst, der Ast, der sie und ihre Schülerin vor den anstürmenden Wassermassen retten sollte, könnte brechen, hat sie etwas Unvorstellbares getan. Während sie sich einander öffnen, lernt Marie durch die japanische Kultur, was innere Haltung bedeutet, und Satomi, aus ihrer Erstarrung zu finden und wieder zu lächeln.

Wie Tradition und Moderne in Japan nebeneinander existieren, dafür findet Dörrie eine Metapher. Marie und Satomi besuchen Satomis Tochter, die in einer grellen Show auftritt, in deren gesichtsloser Wohnung in der Stadt. Die Verbindung von Mutter und Tochter wirkt wie beiderseitige Ablehnung. Dann kommt der wortkarge Ehemann nach Hause – und spielt am Klavier ein Impromptu von Schubert.

Japan, das zeigt „Grüße aus Fukushima“, ist ein Land des konsequenten Sowohl-als-auch. In einer Filmsequenz weinen Marie und ein japanischer Mönch im Camp der Vertriebenen, beide ein wenig beschwipst vom Sake-Genuss. Und irgendwann löst sich auch der Schmerz in der scheinbar immer beherrschten Satomi.