Grégoire Ludig als Louis Fugain in einer Szene des Films „Die Wache“ Foto: Little Dream Pictures/dpa

In seinem Kinofilm „Die Wache“ setzt Quentin Dupieux die Regeln logischer Fallanalyse außer Kraft.

Stuttgart - Die Wahrheit ist ein widerspenstiges Ding und lässt sich im Fall des Verdächtigen Fugain nur unter äußerster Anstrengung aus dessen Nase ziehen. Findet zumindest Hauptkommissar Buron (Benoît Poelvoorde), der unbedingt die ganze Nacht auf der Wache verbringen will, um Fugain (Grégoire Ludig) ein Geständnis abzuringen. Der jedoch ist sich keiner Schuld bewusst, hat entsetzlichen Hunger und will nach Hause. Er habe doch bloß eine Leiche vor seinem Mietshaus gefunden, basta! Buron findet es aber seltsam, dass Fugain ganze sieben Mal in dieser Nacht seine Wohnung mit dem Fahrstuhl verlassen hat, und taucht deshalb immer tiefer in Fugains Gedächtnis ein – so tief, dass er selbst Teil der Erinnerungen des Verdächtigen wird.

Wer die Filme „Rubber“ oder „Reality“ des französischen Filmemachers Quentin Dupieux kennt, der weiß, dass es auf den surrealen Spielwiesen dieses Spaßvogels nie mit rechten Dingen zugeht. In „Rubber“ machte er noch einen Autoreifen zum Serienmörder, in „Die Wache“ wirkt der Verdächtige dagegen vergleichsweise normal, könnte aber mehr auf dem Kerbholz haben, als man zunächst vermutet. Doch Dupieux interessiert sich weniger für die Gesetze logischer Fallanalyse als für die Frage, wie Erinnerung, Verdrängung und individuelle erzählerische Ausgestaltung Wahrheiten überhaupt erst konstruieren.

Was ist Wahrheit, was nur Gedankenspiel?

Für Fugain etwa befindet sich die Wahrheit stets im Fluss. Als Buron einmal das Zimmer verlässt und seinen Verdächtigen unter Aufsicht des einäugigen, ständig „sozusagen“ plappernden Kollegen Philippe (Marc Fraize) zurücklässt, wird es plötzlich gefährlich, weil Philippe sich ausmalt, wie gewöhnliche Alltagsgegenstände zu Mordwerkzeugen zweckentfremdet werden könnten. Ob Philippe durch seine Gedankenspiele den nachfolgenden Unfall selbst heraufbeschwört oder ob der Unfall Teil von Fugains selbst gewählter Wahrheit ist: Das ist nur ein Rätsel, das der Regisseur aufgibt.

Es braucht ein bisschen, bis Quentin Dupieux die Stellschrauben seines Plots festgezogen hat. Je weiter aber Hauptkommissar Buron in die Erinnerung Fugains vordringt, desto faszinierender wird das absurde Erzählexperiment. Das liegt auch an der ausgeklügelten Ästhetik mit merkwürdig anachronistischen Innenräumen in brutalistischer Sichtbeton-Optik und unheimlichen Artefakten aus analoger Vorzeit.

Mit dem furiosen, doppelbödigen Finale bringt Dupieux seinen Hauptcharakter Fugain dann vollends um den Verstand. Die Wahrheit, lernt man hier, hat mit Gewissheit nichts zu tun, sie entsteht während des Erzählens und hat viele Ebenen. Ein irres Spiel!

Die Wache. Frankreich 2018. Regie: Quentin Dupieux. Mit Grégoire Ludig, Benoît Poelvoorde, Jeanne Rosa, Jacky Lambert. 74 Minuten. Keine FSK-Angabe. Delphi