Das Mädchen Mija (Ahn Seo-hyun) erlebt mit dem sanften Riesenschwein Okja täglich das Glück der Freundschaft. Foto: Netflix

Ein Netflix-Kinderfilm nur für Erwachsene: „Okja“ erzählt von einem Riesenschwein, einem Mädchen und der Fleischindustrie. Das ist manchmal niedlich wie bei Disney und dann wieder zynisch wie die Wirklichkeit. Kommt Freundschaft gegen den Schlachthof an?

Stuttgart - Der große Zeichentrickpionier Walt Disney war weder ein großer Zeichner noch ein netter Kerl, aber ein begnadeter Seelenleser des Publikums. Eine seiner pfiffigen Erkenntnisse lautet: „In einem Kind steckt nicht viel von einem Erwachsenen. Aber in einem Erwachsenen steckt viel von einem Kind“. Für seinen Spielfilm „Okja“, einer nun bei Netflix zu sehenden Eigenproduktion des Streaming-Primus, hat der südkoreanische Regisseur Bong Joon-ho diese Maxime von Disney ernst genommen. Er hat ein Märchen über ein freundliches, intelligentes Riesenschweinchen, über dessen liebende menschliche Freundin und über eine Welt der nachschubbedürftigen Schlachthöfe gedreht, einen Kinderfilm, den man Kindern guten Gewissens nicht zeigen kann, der sich vielmehr an das Kind im Erwachsenen wendet. Kein Film, der süße Träume macht, sondern einer, der den Albtraum herausfordert.

Ins Gespräch kam „Okja“ vor einigen Wochen, als er beim Filmfestival von Cannes, noch immer das wichtigste Filmkunstereignis weltweit, im Wettbewerb stand. Da ging es aber nicht darum, dass es solche mit kindlichen Mustern und Bildern spielenden Filme sonst kaum dorthin schaffen, da ging es nicht um die möglichen Stärken, Schwächen, Eigenheiten dieses Werks, sondern um Revierabgrenzung.

Der Streit zwischen Kino und Fernsehen

Als Netflix-Produktion hat „Okja“ zwar fraglos Kinoformat, war aber nie für eine Kinoauswertung vorgesehen. Dass der amerikanische Bezahlkanal dieses Jahr gleich zwei seiner Produktionen im Wettbewerb von Cannes platzieren konnte, wurde von einer Allianz der Kinoverklärer und -lobbyisten als gefährlicher Präzedenzfall beklagt, als Anschlag aufs Kino.

Fazit der Debatte: Entweder Filme sind gut genug fürs Kino, dann dürfen sie dem Kino nicht entzogen werden und ihm Zuschauer rauben. Oder sie sind nicht gut genug fürs Kino, dann dürfen sie nicht dessen Rahmen missbrauchen, um das Fernsehen mit geborgtem Glanz aufzuwerten. TV-Produktionen, die nicht zuvor ins Kino kommen, dürfen nun laut einer fixen Regeländerung nicht mehr in den Wettbewerb von Cannes.

Sehen Sie hier den Trailer zu „Okja“:

Das mag man sowieso schon für eine erschreckend altmodische, dünkelhafte Position halten. Aber um die ganze Verbohrtheit der Cineastenfraktion richtig einschätzen zu können, sollte man sich „Okja“ nun anschauen. Es sind träumerische, idyllische, entrückende Bilder, die uns „Okja“ früh bietet, vom Leben eines alten Bergbauern und seiner Enkelin Mija, die mit einem Augenzwinkern auf die Welt von „Heidi“ verweisen. Doch zuvor hat uns der Film mit einem zynischen Missbrauch von Bildern und Worten bombardiert, hat uns den Kampagnenlaunch eines Lebensmittelkonzerns vorgeführt. Dessen egomanische Chefin (Tilda Swinton) setzt ein gigantisches Gen- und PR-Experiment ins Werk, den Versuch, eine Laborkreatur mit dem Nimbus des glücklichen Naturprodukts zu umgeben. Das stürzt uns also mitten in die aktuellen Debatten um Massentierhaltung, Agrarindustrie, die Rechte und Würde des nichtmenschlichen Lebens und die Nöte, eine überbevölkerte Erde zu ernähren.

Das Schicksal des Schnitzellieferanten

Bong Joon-ho, der bislang von Riesenmonstern („The Host“), extremen Herausforderungen der Mutterliebe („Mother“) und faschistoiden, kaputten Endzeitnischen der Menschheit („Snowpiercer“) erzählt hat, zeigt das Landidyll einerseits als Werbelüge. Andererseits baut er es kundig vor uns auf, lässt den knuffigen kleinen Bauernhof hoch droben in den Bergen existieren. Die in ihrer Symbolkraft an Akira Kurosawas Spätwerk „Träume “ erinnernde Wald- und Wiesen-Schwärmerei kitzelt nicht unsere Lust am Kitsch, sie stellt uns eine Denkaufgabe. Mal angenommen, sagt der Film, es könne solch einen rustikalen Kinderbilderbuch-Bauernhof geben, mal angenommen, ein junges Mädchen hätte ein Hoftier, hier das Retortenschwein Okja, dreimal so groß wie ein Nilpferd und freundlich wie ein Labrador, als besten Freund: Was würde das denn über diesen animalischen Freund aussagen? Was wäre das dann für ein Moment, wenn Okja seiner Bestimmung als Schinken-, Speck- und Schnitzellieferant zugeführt wird?

Viele Szenen hier haben Parallelen in Disney-Produktionen, in „Elliot, das Schmunzelmonster“ beispielsweise. Aber dort machen die Belege für Intelligenz und Persönlichkeit des Tiers klar, dass ein Sieg des Tieres und seiner Beschützer über böse menschliche Anschläge zu erwarten ist. In „Okja“ dagegen wird uns klar, wie bitter die tägliche Niederlage der Tiere, über deren Intelligenz und Glücksfähigkeit die Wissenschaft beständig neue Erkenntnisse liefert, wirklich ist.

Mehr Chancen für sowas, bitte

Im Kampf um Okja, in den sich eine Untergrundtruppe der Tierbefreier mischt, blitzen noch viele andere Filmzitate auf, auch solche des KZ-Films. Das Kino von heute hätte diesen Film eventuell gar nicht finanziert. Mit ziemlicher Sicherheit hätte es ihn zwischen dem Abspiel von „Fast & Furious Teil X“ und „The Avengers Teil Y“ versenkt. Ob Netflix eine angemessene Reichweite herstellen kann, ist zwar alles andere als sicher. Aber die spontane Entscheidung, sich dem Zersägt- und dann dem halben Geleimtwerden von Kinderträumen zu stellen, ist einem Streamingkunden eher zuzutrauen als einem Kinogänger. Und der einzelne Zuschauer zuhause wird bei „Okja“ von leuchtenden oder dunkel drohenden, durchdachten Kinobildern belohnt. Die Diskussion von Cannes ist eine vorgestrige. Es geht nicht um bessere oder schlechtere Vertriebswege. Es geht darum, wie man guten Filmen gegenüber lärmendem Tinnef auf allen Vertriebswegen mehr Chancen verschaffen kann.