Viele Kinder haben nicht nur ihr Zuhause verloren, sondern trauern um Eltern und Freunde. In den Kinderschutzzentren, die Hilfsorganisationen errichtet haben, erlangen sie wieder ein Stück Unbeschwertheit Foto: Warth

Nach den gewaltigen Himalaja-Erdbeben liegt noch vieles in Nepal in Trümmern. Tiefgreifender sind aber die Spuren, die die Katastrophe im Inneren der Menschen hinterlassen hat. Hilfsorganisationen wie die Kindernothilfe unterstützen Psychologen vor Ort, den Betroffenen wieder Halt zu geben.

Kathmandu - Wenn Saroj ihre Heimat malt, dann gibt es ein Vorher und ein Danach. Vorher hat die Siebtklässlerin dicht bewaldete Berghänge und bunte Häuser gezeichnet, die sich dicht an dicht an viel befahrene Straßen drängen. So sah es vor dem 27. April aus – jenem Samstag, an dem die Erde eine Minute lang so stark bebte wie seit fast hundert Jahren nicht mehr. Seit diesem Datum korrigiert Saroj ihr Heimatbild: Die Berghänge sind kahl, die Bäume liegen kreuz und quer, die bunten Häuser sind krumm und schief, haben keine Dächer mehr. Auf den Straßen liegen umgekippte Autos.

Das Bild von Saroj hängt im Klassenzimmer ihrer Schule in Pagretar, einem Dorf, etwa 65 Kilometer von Kathmandu entfernt. Es ist nicht das einzige: Auch die anderen Kinder der Schule haben Bilder gemalt. Damit wollen sie versuchen, das, was sie am 27. April und am 12. Mai erlebt haben, irgendwie zu verarbeiten. An jenen beiden Tagen erschütterten Erdbeben den Himalaja-Staat mit der Stärke 7,8 und 7,3 auf der Richterskala. Mehr als 8000 Menschen kamen dabei ums Leben, etwa 16 000 weitere wurden verletzt. Durch die Erschütterungen wurden schätzungsweise 300 000 Häuser zerstört, rund 250 000 stark beschädigt.

"Das Schlimme ist die Angst"

Doch das ist nicht alles: „Das Schlimme ist die Angst“, sagt die Psychologin Nadia Rabah von Amurt, einem internationalen Netz von Hilfswerken, die in zahlreichen Ländern der Erde Katastrophen- und Entwicklungshilfe leisten – auch in Nepal. Die Unsicherheit, ob die Katastrophe schon vorbei ist, doch noch ein großes Nachbeben folgt oder – wie in den vergangenen Tagen – nur kleinere. Ob wieder Häuser einstürzen, Hänge ins Rutschen geraten, wieder Freunde, Eltern, Nachbarn vom Erdboden verschluckt werden.

„Diese Dinge“, so bestätigt es Christoph Dehn von der Kindernothilfe, „werden bei solchen Katastrophen leider oft vergessen.“ Seit dem 12. Mai, dem Tag des zweiten Bebens, ist die Duisburger Hilfsorganisation daher auch in Nepal aktiv. Sie unterstützt hauptsächlich ihre Partnerorganisationen Amurt und ACF international – in Deutschland unter dem Namen Aktion gegen Hunger bekannt – in der medizinischen Versorgung und der Einrichtung von Kinderschutzzentren, insbesondere in den am stärksten betroffenen Regionen Gorkha, Sindhupalchok und Nuwakot.

In jenen Dörfern, etwa 100 Kilometer nordöstlich von Kathmandu gelegen, zeigt sich, wie sehr das Erdbeben auch die Menschen in ihren Grundfesten erschüttert hat: Im Schatten der Bäume haben sich die Frauen aus dem Dorf auf einer Plane niedergelassen, Babys werden gestillt, Kleinkinder nuckeln an billigem Plastikspielzeug. Die Gemeinschaft, so erklären es die Psychologen von ACF, soll den Frauen helfen, das Erlebte besser zu verarbeiten. „Die Menschen in Nepal sind es nicht gewohnt, über ihre Gefühle zu reden“, sagt die Teamleiterin Nuria Diez. So etwas habe man mit sich, allenfalls mit seinem Glauben ausgemacht.

Betroffene körperlich und emotional erschöpft

Doch nicht immer reicht der Glaube allein, wenn das Leben aus den Fugen geraten ist. „Ich bin oft müde gewesen“, berichtet die 26-jährige Laxmi Shrestha. Oft saß sie da, unfähig, alltägliche Dinge wie den Abwasch oder Kochen zu erledigen. „Ich hab’ mich hilflos und ängstlich gefühlt, wusste aber nicht, warum.“ PTBS – Posttraumatische Belastungsstörung – nennen Experten dieses Verhalten, was der Laie hierzulande sonst aus Berichten über Kriegsrückkehrer kennt. Die Betroffenen fühlen sich häufig körperlich und emotional erschöpft.

Das zeigt sich schon an den Kindern: „Viele haben verlernt zu spielen“, sagt Nuria Diez. Also wird in den Dörfern wieder gespielt – mit Legos und Holzbausteinen, mit Plastikautos und einem Zoo aus Gummitieren. Das alles liegt auf der blauen Plane aus. Ein provisorischer Spielplatz, den das ACF-Team in einer kleinen Laube errichtet hat. Den Kindern ist alles recht: Da werden Türme gebaut, so hoch wie die kleinen Baumeister selbst, bis sie krachend zusammenfallen – ein Geräusch, das vor kurzem noch die Kinder hat zusammenzucken lassen. Inzwischen lachen sie darüber, einer ruft „earthquake“– wie Erdbeben auf Englisch heißt.

Die Unbeschwertheit ist nicht von Dauer. Spätestens in der Nacht kehrt die Angst wieder. Keiner fühlt sich sicher – selbst diejenigen nicht, deren Haus vom Beben nahezu verschont geblieben ist. Ein paar Risse, etwas abgebröckelter Putz – mehr ist dem Lehmhäuschen von Anta Kumari Adhikari nicht passiert. Und doch verbringt die 70-Jährige nicht die Nacht im Inneren: „Ich traue meinem Haus nicht.“ Wer wisse schon, was es aushalte? Anta Kumari Adhikari teilt sich daher mit Schwester, ihrer Tochter und drei Enkeln eine Pritsche vor dem Haus. Die beiden Männer der Familie schlafen auf dem Boden.

So geht das seit dem zweiten Beben – nicht nur der Familie Adhikari. Überall im Land sieht man die Lager auf den Terrassen der mehr oder weniger beschädigten Häuser. Selbst im Garten von Rabindra Puri steht ein provisorisches Nachtlager für seine Frau, die Mutter und die beiden Kinder. „Die Angst ist noch zu groß“, sagt Puri. Dabei steht sein jahrhundertealtes, renoviertes Bauernhaus wie ein Denkmal zwischen all den zerstörten Gebäuden der Stadt Bhaktapur. „Nicht einen Riss“, so der 45-Jährige, hat das Haus abbekommen. Auch die vielen Schulen, die der Baumeister in den vergangenen Jahren schon errichtet hat. „Sie stehen alle.“

Rückbesinnung auf traditionelle Bauweisen

Unglaublich? Nicht unbedingt, wenn Rabindra Puri anfängt zu erzählen, nach welchen Gesetzen er die Häuser baut. Er schwört auf die Newari-Architektur. Das Newari-Volk baute schon vom 11. Jahrhundert an nahezu hundertprozentig erdbebensichere Häuser mit Holzstreben, die die Wände und Decken wie ein Gerippe verbinden. Seit Jahren ermahnt Puri die Regierung, die alten Lehren wieder aufzugreifen und sie mit heutigen Materialien weiterzuentwickeln. Das sei nicht nur sicherer, sondern auch günstiger. „Wenn man früher auf mich gehört hätte, wäre das Erdbeben sehr viel glimpflicher ausgegangen“, sagt Puri.

Inzwischen lehrt er in einer von ihm gegründeten Handelsschule junge Männer, die Baukunst ihrer Vorfahren zu achten. Die Kindernothilfe und Amurt planen, Puri in ihre Schulprojekte miteinzubeziehen. Auch die Regierung zeigt endlich Interesse. „Aufgrund des großen Bedarfs an Maurern, Schreinern und Tischlern bieten wir auch Crashkurse an“, sagt Puri. Der Nachwuchs soll beim Wiederaufbau helfen.

Jeden Moment kann der Monsun niedergehen

Doch bis sich das Wissen der Newari im Land verbreitet, wird es noch dauern. Aber Zeit ist eben das, was die Nepalesen nicht haben: Sie brauchen schnell ein festes Dach. Jeden Moment kann der Monsun niedergehen. Dann wird der Regen durch die einfachen Konstruktionen aus Bambus und Plastikplanen dringen. Das Wasser wird auch in Erdspalten fließen, die das Erdbeben in die Hänge gerissen hat. Was dann passiert, bezeichnen Geologen als Schmiermittel-Effekt: Die oberen Erdschichten rutschen einfach ab. Schon meldeten die Behörden erste Erdrutsche, die sechs Dörfer unter sich begraben haben. 35 Menschen sind ums Leben gekommen, 18 werden vermisst.

Nepal ist noch immer ein Katastrophengebiet. Und schon wächst die Sorge, dass das Land aus dem Blick der Weltöffentlichkeit gerät, dass die Karawane der Helfer weiterzieht – zur nächsten Notsituation. Werde das Leid chronisch und zeichne sich keine Perspektive ab, ermüde auch die Hilfsbereitschaft, sagt Christoph Dehn von der Kindernothilfe. Dabei funktioniert Entwicklungshilfe nur, wenn sie auf mehrere Jahre angelegt ist und die Leute vor Ort miteinbezieht. „Dann aber braucht sie auch mehrere Jahre Unterstützung.“

80 Prozent der Hotelbuchungen nach dem Beben storniert

Geld seitens des Tourismus – Nepals wichtigste Einnahmequelle – ist erst mal nicht zu erwarten: 80 Prozent der Hotelbuchungen sind nach dem Erdbeben storniert worden. Noch rät der deutsche Botschafter in Kathmandu, Matthias Meyer, davon ab, nach Nepal zu reisen. Die Lage sei einfach zu gefährlich, so der 63-Jährige zu den Stuttgarter Nachrichten. Zumal es immer noch zu Nachbeben kommt.

An diesem Nachmittag jedoch ist alles ruhig. Wunderschön und still ist die Landschaft rund um Tekanpur, der Himmel silbrig flimmernd, grasgrüne Terrassenfelder säumen die Berghänge bis hinunter ins Tal, wo der Gebirgsfluss über große Kiesel rauscht. Der erste Schultag seit dem Beben neigt sich dem Ende zu. Zum Abschluss haben alle Kinder einen Luftballon bekommen. „Da müsst ihr all eure Ängste hineinblasen“, ruft die Lehrerin. „Damit ihr sie loswerdet.“ Ein Junge reißt den Arm hoch, den prallen Luftballon fest in der Hand und schreit: „Mo jityen“ – gewonnen!