Günter Kunert im März 2019 Foto: dpa/Georg Wendt

Der Dichter Günter Kunert ist 90-jährig bei Itzehoe gestorben.

Itzehoe - Günter Kunert war in der Nachkriegsgeneration der deutschen Literatur, die er in Ost und West mitprägte, ein seltener Dichter. 1929 in Berlin geboren, blickte er früh in deutsche Abgründe: „Gewissheit besteht /... / ein gelber Stern // das ist alles.“ Die Nazis erklärten ihn zum „Halbjuden“. Kunert erfuhr, die Differenz von Wahrnehmung ist nicht diskutierbar, er bestand auf seinen Erfahrungen. Wie sollte das auch anders sein bei einem Dichter, der seine Nächsten nach Theresienstadt verabschieden musste? Für ihn blieb gewiss, der Bericht von einer Katastrophe kann die nächste nicht abwenden. Auch seine Hingabe an die Gleichheit als unersättliches Ideal war kurz und nie vollkommen. An den Ost-Berliner Nachkriegsverheißungen sah er das Kostüm Stalins – früher als andere.

Als 1950 mit „Wegschilder und Mauerinschriften“ sein erster Gedichtband erschien, zeigte sich ein eigener Ton. Da ist er einundzwanzig. Den Aufklärungsgestus von Brecht oder den dunklen Habitus Benns hat er mehr gestreift als angenommen. Dabei blieb es, und es wundert nicht, dass der Kampf mit den Zensoren um die ursprüngliche Gestalt seiner Werke lange vorhielt. Sein Oeuvre ist unverwechselbar – es umfasst mehr als sechzig Titel mit Gedichten, Kurzprosa und Essays; zuletzt erschien im Februar sein DDR-Roman „Die zweite Frau“. Vor gut vierzig Jahren zeigte sich Kunert mit der Lyrik-Auswahl „Erinnerung an einen Planeten“ und dem Prosaband „Tagträume“ einem interessierten Publikum im Westen. Seit dieser Zeit erscheinen seine Werke bei Hanser.

Kunert gehörte zu den ersten Unterzeichnern der Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns

Kunerts Abkehr von Ost-Berlin erfolgte in Schritten, auf Privilegien fiel er nicht herein. In den siebziger Jahren bereiste er die USA und England, wird für seine Leserin der weltabgeschiedenen DDRmit den Reiseberichten „Der andere Planet“ und „Englisches Tagebuch“ nicht nur zu einem literarischen Botschafter. Kunert gehörte ohne Zögern zu den Erstunterzeichnern der Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Parteigericht und Spitzel-Rumor machten das Maß voll, im Herbst 1979 ging der Dichter mit seiner Frau Marianne und sieben Katzen in den Westen. Seitdem lebte dieser Ur-Berliner in den Weiten Schleswigs, in Kaisborstel. In Rufweite zur wahlverwandten Sarah Kirsch schrieb er hier sein Werk fort, heiratete nach dem Tod seiner ersten Frau ein zweites Mal. Die Wende erlebte er nicht atemlos, in seinem Gedichtband „Fremd daheim“ gibt es keine Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart, höchstens eine räumliche Entfernung. Zu seinen letzten kapitalen Büchern gehören seine Erinnerungen „Erwachsenenspiele“ und der Werkstattbericht „Die Botschaft des Hotelzimmers an den Gast“. Als Dichter zeigt er sich noch einmal in ganzer Größe in der Auswahl „So und nicht anders“.

Pragmatische Strenge

Auch wenn Günter Kunert als Einzelner im Heideggerschen Sinne ein Frieren verspürte, blieb er doch ein Melancholiker, der vorlebte, wie Skepsis und unermüdliches Weiterschreiben einen Pakt eingehen. Er nahm bei seiner Weltaneignung die Realität beim Wort, dabei entwickelte er ein genaues Gefühl für pragmatische Strenge. Unempfänglich gegenüber jeder Schwarzweiß-Moral, mied er Schlagwort und Attitüde. Das Wort kam bei ihm weder aus einer Grundverzweiflung noch aus versenkter Betrachtung, es hatte einfach etwas gekostet im Leben. Sarah Kirsch entlastete ihn rechtzeitig vom Ruf eines Fatalisten: „Wenn seine Exkurse und Alexandriner auch so gänzlich hoffnungslos scheinen, führt er ein geselliges Leben und reist mit Marianne und den eigenen Pferden.“ Günter Kunert hat immer gewusst, das Leben ist schön. Bis zu seinem Verkehrsunfall hat er in vollen Zügen geschrieben und gelebt. Im Alter von 90 Jahren ist Günter Kunert am Samstag ins Kaisborstel bei Itzehoe gestorben.