Die Wut vieler Menschen auf die politische Elite bekamen die Mächtigen seit der Explosion Tag für Tag zu spüren. Foto: dpa/Hussein Malla

Bei Protesten entlädt sich Wut in Gewalt, Minister werden beschimpft, ein Bild des Präsidenten geht zu Bruch: Nach der Explosion in Beirut haben Libanons Premier und die Regierung alles Vertrauen verloren.

Beirut - Am Ende zog der Regierungschef im Libanon die Notbremse. Nach der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut war der Druck auf Hassan Diab und sein Kabinett so groß, dass nur noch ein Ausweg blieb: der geschlossene Rücktritt. Am Montagabend machte der Ministerpräsident in einer Fernsehansprache offiziell, was jetzt ohnehin alle erwartet hatten.

Diab wollte jedoch nicht abtreten, ohne der politischen Elite des Mittelmeerlandes noch einmal die Leviten zu lesen. Er geißelte die „chronische Korruption“ in Politik und Verwaltung, die er für den Absturz des Landes und auch für die schwere Detonation verantwortlich machte. „Das System der Korruption ist größer als der Staat“, sagte Diab. „Es gibt welche, die die Fakten fälschen, vom Aufruhr leben und mit dem Blut der Menschen handeln.“

Damit meinte er wohl die anderen. Diab und seine Minister hatten gerade einmal sieben Monate nach Amtsantritt in großen Teilen der Öffentlichkeit selbst jegliches Vertrauen verloren. Die Wut in der Bevölkerung ist immer noch enorm. Kaum jemand wollte dem Premier das Versprechen abnehmen, die Hintergründe des Unglücks mit 160 Toten und mehr als 6000 Verletzten offen aufzuklären. Vielmehr machen viele Libanesen die Regierung für die gewaltige Detonation verantwortlich.

Die Wut vieler Menschen auf die politische Elite bekamen die Mächtigen seit der Explosion Tag für Tag zu spüren. Aufgebrachte Menschen beschimpften Regierungsvertreter als „Mörder“ und „Terroristen“. Justizministerin Marie-Claude Nadsch musste sich mit Wasser bespritzen lassen. Dem Gouverneur von Beirut hielten Demonstranten einen Galgen entgegen. Als am Wochenende das Außenministerium gestürmt wurde, zertrümmerte die Menge ein Bild des alternden Staatschefs Michel Aoun.

Die Mächtigen haben dieser Wut wenig entgegenzusetzen. Ihre Versuche, die angespannte Lage mit altbekannten rhetorischen Floskeln zu beruhigen, schlugen fehl. Zu gewaltig ist das Misstrauen vieler Libanesen gegenüber der politischen Elite, der sie seit langem Korruption, Misswirtschaft und Selbstbereicherung vorwerfen. Nach der Explosion fühlen sich die Opfer im Stich gelassen.

Die Zufriedenheit über den Rücktritt der Ministerriege dürfte jedoch nur kurz währen. Häufig schon haben Kabinette in der Geschichte des Libanons aufgegeben, um durch andere ersetzt zu werden. Erst im Oktober warf der damalige Ministerpräsident Saad Hariri nach Massenprotesten hin. An den Machtverhältnissen änderte sich jedoch nur wenig. Die dahinter liegenden Strukturen sind seit langem zementiert sind. Diabs Kabinett galt vielen als reine Fassade.

Nach dem Rücktritt wird sofort das Ringen um ein neues Kabinett beginnen

Die Macht in dem kleinen Land am Mittelmeer ist nach einem Proporzsystem aus dem Jahr 1943 unter den Konfessionen aufgeteilt. Der Präsident muss immer Christ sein, der Regierungschef Sunnit und der Parlamentspräsident Schiit. Zugleich hat die politische Elite, die zum großen Teil aus wenigen alteingesessenen reichen Familien besteht, die eigentliche Macht fest in der Hand.

Üblich ist, dass wichtige politische Positionen vom Vater auf den Sohn übergehen. Auch sonst gehören Familienbande zu den Konstanten. So ist einer der einflussreichsten und meistgehassten Politiker, Ex-Außenminister Dschibran Basil, Schwiegersohn von Präsident Aoun. Gleichzeitig, beklagen Kritiker, hat die Elite das Land nicht nur ausgebeutet, sondern auch vernachlässigt. Straßen, Internet, Stromversorgung sind schlecht ausgebaut. Mehrmals am Tag fällt der Strom aus, vor allem im heißen Sommer.

Durch enge Verflechtungen zwischen Politik und Banken und eine Art Kredit-Schneeballsystem ist der Libanon dennoch zu einem der am stärksten verschuldeten Länder der Welt geworden, dem Staatsbankrott nahe. In der schweren Wirtschafts- und Finanzkrise, verschärft durch die Corona-Pandemie, sind große Teile der Bevölkerung in die Armut abgerutscht. Wegen einer explodierenden Inflation wissen viele nicht mehr, wie sie über die Runden kommen sollen.

Und dann ist da noch die Iran-treue Hisbollah, die wohl mächtigste Organisation des Landes. Sie agiert wie ein Staat im Staate. Mit ihrer Miliz kontrolliert sie ganze Regionen, etwa das Grenzgebiet zum verfeindeten Nachbarn Israel. Gegen die Hisbollah, die an der bisherigen Regierung beteiligt war, kann nicht regiert werden.

Nach dem Rücktritt wird nun sofort das Ringen um ein neues Kabinett beginnen. Im Raum steht auch eine vorgezogene Neuwahl des Parlaments, was Diab vorgeschlagen hat. An den Machtverhältnissen dürfte das aber nur wenig ändern. Seit Beginn der Massenproteste im Oktober verlangen die Demonstranten deswegen tiefgreifende politische Reformen, den Rücktritt der gesamten alten Machtelite. Beliebtester Slogan der Proteste: „Killon jani killon“. Heißt: „Alle bedeutet alle“.