Arnaud Tranchant (l.), leitender Marineoffizier für den französischen Hubschrauberträger Tonnerre, spricht mit Emmanuel Macron, Präsident von Frankreich, und Olivier Veran, Gesundheitsminister von Frankreich vor dem Hafen von Beirut. Foto: dpa/Stephane Lemouton

Libanons politisches System hat sich in der Vergangenheit immer wieder reformunfähig gezeigt. Doch selten war der Druck so groß wie jetzt. Frankreichs Präsident sieht sogar eine „letzte Chance“.

Beirut - Vier Wochen nach der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut erhöht Frankreichs Präsident Emmanuel Macron den Reformdruck auf die politische Führung des Krisenlandes. Bei einem Besuch in der libanesischen Hauptstadt warnte Macron am Dienstag, langfristige internationale Hilfe werde nur ausgezahlt, wenn bis Oktober Reformmaßnahmen eingeleitet worden seien. Dann werde es einen „Folgemechanismus“ geben, kündigte er an.

Er schlug eine erneute internationale Geberkonferenz vor. Unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen könnte diese im Oktober in Paris stattfinden, so Macron. Die Fortschritte im Libanon seien da. Die internationale Gemeinschaft müsse ihre Bemühungen für die Libanesen fortsetzen, betonte Macron.

In einem Interview der Nachrichtenseite „Politico“ sagte Macron, die nächsten drei Monate seien „fundamental“ für einen wirklichen Wandel. Sollte dieser ausbleiben, werde er den Kurs ändern und Strafmaßnahmen ergreifen. So könnten auch Sanktionen gegen die Führungsklasse verhängt werden. „Es ist die letzte Chance für dieses System.“

Macron macht sich Bild von Lage

Macron nahm am Dienstag nördlich von Beirut an einer Feier zum 100. Jahrestag der Gründung des Libanons teil. Dort pflanzte er einen Zedernbaum, das Nationalsymbol des Landes. Danach besuchte er erneut den Hafen, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Dort prangerte er unter anderem die weit verbreite Korruption an.

Notwendig seien Reformen etwa im Energiesektor, im Bankenwesen und in der Justiz. „Alles ist bereit, aber ein politischer Wille ist nötig“, sagte er. Macron kündigte einen weiteren Besuch an. Im Dezember wolle er erneut in den Libanon reisen, „um den Rest zu erledigen“, sagte er.

Der Libanon erlebt seit Monaten eine der schwersten Wirtschafts- und Finanzkrisen seiner Geschichte. Die Corona-Pandemie und die Explosion haben die Lage weiter verschärft. Große Teile der Bevölkerung sind in die Armut abgerutscht, dem Land droht ein Staatsbankrott. Der Libanon gehört weltweit zu dem am stärksten verschuldeten Ländern.

Mustafa Adib als neuer Premier nominiert

Auch politisch steckt das Land in einer tiefen Krise. Nach der Explosion trat die Regierung zurück. Am Montag nominierten die führenden politischen Blöcke den bisherigen Botschafter des Libanons in Deutschland, Mustafa Adib, als neuen Premier. „Das ist der erste Eckpfeiler einer neuen Etappe“, erklärte Macron.

Doch vielen Libanesen reicht das nicht aus. Seit Monaten kommt es immer wieder zu Massenprotesten. Die Demonstranten werfen der politische Elite unter anderem Korruption und Selbstbereicherung vor. Sie fordern eine grundlegende Reform des politischen Systems. Diesem Ruf schlossen sich auch Deutschland und andere Staaten an.

Während Macron am späten Nachmittag in der Residenz des französischen Botschafters Gespräche mit libanesischen Beamten führte, warfen Dutzende von Demonstranten Steine auf das Parlamentsgebäude. Einige Demonstranten versuchten, Zementblöcke und Eisenstangen am Eingang des Parlaments zu erklimmen. Die Bereitschaftspolizei feuerte Tränengas ab, um sie auseinanderzutreiben.

Der französische Staatschef sagte „Politico“, er wolle von Anführern der politischen Parteien glaubwürdige Reformzusagen, inklusive eines Zeitplans. Dazu gehörten auch Neuwahlen innerhalb von zwölf Monaten.

180 Tote bei Explosion

Bei der Explosion Anfang August waren mehr als 180 Menschen ums Leben gekommen, mehr als 6000 wurden verletzt. Große Teile des Hafens liegen in Trümmern. Auch umliegende Wohngebiete wurden stark zerstört. Macron war bereits kurz nach der Detonation nach Beirut gereist.

Libanons politisches System ist geprägt von einem jahrzehntealten Proporzsystem, das die Macht zwischen den Konfessionen aufteilt. Der Präsident ist immer ein Christ, der Premier ein Sunnit und der Parlamentspräsident ein Schiit. Eine besondere Rolle spielt die schiitische Hisbollah, die starken Einfluss besitzt. Gegen die Interessen der pro-iranischen Organisation kann kaum regiert werden.

Das politische System hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder reformunfähig gezeigt. Kritiker werfen der politische Elite vor, sie sei nur am Erhalt ihrer eigenen Macht und ihres Reichtums interessiert. Für die Wirtschafts- und Finanzkrise machen sie unter anderem eine Art Schneeballsystem mit Krediten verantwortlich.

Als frühere Kolonialmacht hat Frankreich noch immer enge Beziehungen zum Libanon. Der französische General Henri Gouraud hatte am 1. September 1920 den Großlibanon ausgerufen. Der neu gegründete Staat stand unter französischem Mandat und wurde erst 1943 unabhängig.