All jene, die von einer anderen Sicht auf die Vergangenheit Sarah Nainis erzählen könnten, sind gestorben. Foto: factum/Weise

Eine Familie unterstellt einer verurteilten Totschlägerin, sie habe schon einmal getötet – um das Erbe des Familienoberhaupts zu erschleichen. Nach dessen Tod war das Haus verkauft, das Geld verschwunden, der Leichnam eingeäschert.

Sindelfingen - Diese Geschichte gebietet, dass die Namen in ihr erfunden sind. Es ist eine zutiefst private Familiengeschichte, die eine einseitige Sicht auf Vergangenes freigibt. Diejenigen, die von einer Gegenseite berichten könnten, sind tot, mit Ausnahme einer Frau. Sie ist in Haft. Laut einem Urteil des Stuttgarter Landgerichts hat sie im Juni des vergangenen Jahres ihre Nachbarin erstochen, im Blutrausch, ohne erkennbaren Grund. Der Richter Norbert Winkelmann nannte die Tat „eine Hinrichtung“. Die Verurteilte beteuert ihre Unschuld.

Jene Familie – zu der sie im weiteren Sinn selbst zählt – unterstellt ihr Erbschleicherei und sogar Mord. Für diesen Artikel soll die Frau Sarah Naini heißen. Juristisch ist Joachim Wagner ihr Bruder. Er dürfte der einzige Deutsche sein, der je dagegen klagte, dass seine Schwester seine Schwester sein darf. Wie oft er deswegen vor Gericht war, weiß er nicht mehr. Die Prozesse sind lange her. „Drei-, viermal, aber ich habe immer verloren“, sagt er.

Der Notar beschied, die Braut sei bereits vergeben

Sein Vater Horst wollte Sarah Naini heiraten, aber der Notar beschied, die Braut sei bereits vergeben. Sarah Naini stammt aus dem Iran. Sie hatte gehofft, der deutsche Staat würde ihre dortige Ehe nicht anerkennen. So wurde sie im Alter von etwa 50 Jahren Horst Wagners Adoptivtochter statt seiner Frau und damit Joachim Wagners Schwester. Wie alt sie genau ist, ist nicht aufzuklären.

Horst Wagner lebte mit seiner Adoptivtochter in seinem Haus am Sindelfinger Waldrand. Er war Witwer, leidenschaftlicher Jäger, Kunstsammler und – für seine Familie – ein verschlossener Schrat. Gelegentlich behinderten ihn die Folgen eines Schlaganfalls. Er sah schlecht und trank weit mehr, als Ärzte empfehlen, aber meist „war er 100-prozentig da“, sagt sein Sohn. Trotzdem zweifelte seine Familie am Verstand ihres Oberhaupts. Seine Adoptivtochter „hat ihn sich hörig gemacht“, sagt Wagner, „aber das ist nicht strafbar“.

Die Adoptivtochter bekam uneingeschränkten Zugriff auf das Vermögen

Sarah Naini hatte uneingeschränkten Zugriff auf das Vermögen ihres Adoptivvaters. „Manche Männer sind eben besonders zugänglich, wenn man sie an gewissen Körperstellen streichelt“, sagt Judith Polte. Horst Wagner ist ihr Bruder oder besser: war es. Am 22. April 2002 erschien die Traueranzeige zu seinem Gedenken.

Sie war ohne Wissen der Familie in Druck gegeben worden. Dem Schlusssatz „In Liebe und Dankbarkeit“ deutet Judith Polte einen anderen Sinn zu als den der Floskel: Sachwerte eingerechnet, waren nach dem Tod ihres Bruders 800 000 bis 900 000 Euro nicht mehr auffindbar, sein gesamtes Vermögen. Unterschrieben war die Anzeige mit: „Sarah Naini-Wagner und alle Angehörigen“.

Die Schwester verließ die DDR, ihr Kind und ihren Ehemann

Niemand kannte Horst Wagner besser als seine Schwester. Sie hatte jahrelang bei ihm gelebt. In den 1970er-Jahren war sie von der DDR in die BRD gereist, mit amtlicher Erlaubnis. Ihre Schwägerin war an Krebs erkrankt. Die DDR-Behörden erlaubten ihr, ihrem Bruder zur Seite zu stehen. Die Schwägerin wurde zum Pflegefall. Judith Poltes Aufenthaltsgenehmigung lief ab. Sie blieb trotzdem und pflegte die Schwerkranke bis zum Tod. Hinter der innerdeutschen Mauer blieben ihr Mann und ihr neunjähriges Kind zurück.

Judith Polte hegt einen eigenwilligen Humor. „So was lebt und Schiller musste sterben“, sagt sie. Gemeint ist Sarah Naini. Über das Urteil gegen sie, 13 Jahre Haft, „war ich richtig glücklich“. Schon die erste Begegnung mit der neuen Partnerin ihres Bruders habe deren Absichten offenbart: „Der Kuchen war kaum auf dem Teller, da hat sie gefragt, ob er ein Testament hat.“

Anfangs mehrten sich nur Merkwürdigkeiten

Merkwürdigkeiten mehrten sich. Ein Tresorschlüssel verschwand. Horst Wagners Ausbildungsversicherung für seine Enkel wurde gekündigt, der Kaufvertrag für einen zweiten Mercedes annulliert. Horst Wagner hatte Freunde, Jäger wie er, „aber über Privates hat er mit ihnen nie gesprochen“, sagt Polte. Falls doch, könnten sie nichts mehr erzählen. Sie sind allesamt gestorben. Die Familie drang nicht zu ihm durch, zuletzt auch die Schwester nicht mehr. Sie fragte einen Arzt und einen Pfarrer um Rat. Beide wussten keinen.

Kurz nachdem er Sarah Naini kennengelernt hatte, unterschrieb Horst Wagner eine Generalvollmacht. Sie durfte fortan, einem Vormund gleich, in seinem Namen handeln. Nach und nach verschwanden um die 50 Ölgemälde, allesamt Jagdmotive. „Am Todestag ist das letzte Girokonto aufgelöst worden“, sagt Joachim Wagner. Das Haus war verkauft, gegen Bargeld. Das Geld war weg, der Mercedes, die Waffensammlung. Der Leichnam seines Vaters war eingeäschert worden.

Die Theorie des Sohnes zur Todesursache war im Prozess gegen Sarah Naini eine Randnotiz im Sinne einer Anekdote: Ein entfernter Verwandter habe ausgesagt, die Angeklagte habe schon einmal getötet, einen Diabetiker, mit Schokolade. Joachim Wagner fehlt jeder humoristische Beigeschmack des Satzes. Er war jener entfernte Verwandte. „Mein Vater war hochgradiger Diabetiker“, sagt er, „und in unserer Familie ist noch nie jemand eingeäschert worden“. Er war wegen seiner Mordtheorie bei der Polizei. Eine Obduktion war selbstredend nicht mehr möglich.