Machen Eltern ihre Kinder absichtlich krank, spricht man von Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. Foto: dpa

Der besonders schwere Fall von Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, über den das Hamburger Landgericht derzeit zu entscheiden hart, ist kein Einzelfall. Auch in Baden-Württemberg gab es schon solche Verbrechen.

Hamburg/Stuttgart - Eine Mutter soll ihr Kind über Monate hinweg mit verseuchten Spritzen gequält haben und steht deswegen seit Montag vor dem Hamburger Landgericht. Die 30-Jährige habe ihrem dreijährigen Sohn im Jahr 2013 über Monate mit Fäkalien, Speichel oder Blumenwasser vermischte Substanzen unter die Haut oder in die Blutbahn gespritzt, hieß es in der Anklageschrift. Der Junge bekam demnach heftige Schmerzen, Fieberschübe und Abszesse, sein Blutdruck fiel ab und die Sauerstoffsättigung seines Blutes sank. Er lag mehrfach im Krankenhaus, zeitweise befand er sich in Lebensgefahr auf der Intensivstation.

Bewusst krank gemacht

Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass die Angeklagte unter dem sogenannten Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom leidet. Dabei macht ein Mensch einen anderen bewusst krank oder täuscht eine Krankheit vor, um Zuwendung zu erreichen. Die Mutter war stets an der Seite ihres Kindes. Wenn sich sein Zustand besserte und es nach Hause entlassen wurde, gab ihm die Mutter nach Darstellung der Staatsanwaltschaft erneut eine verseuchte Injektion.

Die Ärzte gingen schließlich von einer Krebserkrankung aus und planten eine Knochenmarkstransplantation mit Chemotherapie. Dann aber fiel das Verhalten der 30-Jährigen auf, die Ärzte stellten sie zur Rede und trennten sie von dem Kind. Zwei Wochen später war das Kind wieder zu Hause, mit normalen Blutwerten.

Vermindert schuldfähig?

Nach Verlesung der Anklage schloss das Gericht am Montag die Öffentlichkeit von dem Verfahren aus. Zur Begründung der Kammerentscheidung erklärte das Gericht, in dem Verfahren werde auch die Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung erörtert werden. Dabei könnten intime Details aus dem absoluten Kernbereich der Persönlichkeit zur Sprache kommen.

Ob die 30-Jährige vermindert schuldfähig ist, muss das Gericht aufgrund von Gutachten feststellen. „Wir gehen davon aus, dass sie nicht schuldunfähig ist“, hatte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft vor Prozessbeginn erklärt. Die zierliche Frau mit langen braunen Haaren verbarg sich vor den Blicken der Zuschauer und Pressevertreter.

Sollte die Mutter schuldig gesprochen werden, drohen ihr wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und Verletzung der Erziehungspflicht zwischen einem und 15 Jahren Haft. Das Gericht hat vier weitere Verhandlungstermine angesetzt. Mit einer Urteilsverkündung wird Anfang Oktober gerechnet.

Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom – Was ist das?

Beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom macht jemand einen anderen Menschen bewusst krank oder täuscht eine Krankheit vor. Anschließend verlangt der psychisch kranke Täter dann eine fachkundige Behandlung für sein Opfer. Häufig sind es Mütter, die ihr Kind auf diese Weise schwer misshandeln. In der Regel wollen die Frauen so Zuwendung für sich und ihre Kinder erreichen. Bisweilen gehen die psychisch kranken Mütter so weit, dass ihr Kind an der Misshandlung stirbt. Beim Münchhausen-Syndrom fügen Menschen sich selbst Schaden zu.

Ihren Namen haben Münchhausen- und Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom von dem als Lügenbaron bekanntgewordenen Karl Friedrich Hieronymus Freiherr von Münchhausen (1720-1797). Der Baron aus Bodenwerder im Weserbergland soll gern in geselliger Runde Aufschneidereien erzählt haben, die von Autoren in späteren Jahren übertrieben dargestellt wurden.

Einen ähnlichen Fall gab es in Tübingen

Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom - oder Münchhausen-syndrome-by-proxy (MSBP), wie der englische Fachbegriff für diese Persönlichkeitsstörung heißt – ist eine subtile Form der Kindesmisshandlung, bei der sich die Abgründe der Seele auftun. Was den derzeit in Hamburg verhandelten Fall so brisant macht: Er ist einer der wenigen, die überhaupt vor einem Strafgericht verhandelt werden. Schon 2009 gab es in Tübingen einen ähnlichen Fall. Das Tübinger Landgericht verhandelte im Februar 2009 darüber.

Die Frau aus dem Landkreis Esslingen soll ihrem damals sechsjährigen Sohn monatelang Diuretika (harntreibende Medikamente) verabreicht haben, was zu gesteigerter Harnausscheidung und bedrohlichen Blutwerten führte. Als sich der Zustand des Jungen verschlechterte, musste er mehrfach stationär in den Kinderkliniken in Esslingen und Tübingen behandelt werden.

Als der Junge am 18. Mai 2008 erneut in die Tübinger Klinik eingeliefert wurde, spritzte die Mutter zweimal heimlich einige Milliliter eines Reinigungsmittels in seinen Infusionsbeutel. Einem Pfleger, der sich über die trübe Färbung wunderte und Alarm schlug, ist es zu verdanken, dass das Kind noch lebt. Was sind das für Mütter, die ihre Kinder heimlich quälen? Vor den Ärzten spielte die 29-Jährige die liebevolle Mama. Doch es war eine krankhafte Liebe: MSBP-Mütter täuschen bei ihren Kindern Krankheitssymptome vor, erzeugen künstlich Beschwerden oder verschlimmern vorhandene Krankheiten.

Grausige Beispiele

Andere Beispiele, die Experten gegenüber unserer Zeitung nennen, sind grausig: So lässt eine Frau ihren Säugling erbrechen, damit er nicht zunimmt. Eine andere lässt ihr Kleinkind Abführmittel schlucken. Eine dritte träufelt ihrem Zweijährigen Silikonentferner ein. Andere täuschen bei Säuglingen Atemstillstand vor oder reiben Erde in Wunden, damit sie nicht heilen. Die Störung macht ebenso erfinderisch wie grausam.

„Die Mutter, die solche Symptome hervorruft, möchte auf sich aufmerksam machen. Sie will, dass sich die Ärzte nicht mit dem Kind, sondern mit ihr beschäftigen“, erklärte Klaus-Michael Debatin, Kinderarzt und Leiter der Ulmer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin. „Es ist ein Krankheitsgewinn auf Kosten des Kindes.“

Die Lügner sind fast immer Mütter

Die Lügner, sagt die Leipziger Rechtsmedizinerin Ulrike Böhm, seien in über 90 der Fälle Mütter, die Erkrankungen vortäuschten, provozierten und fabrizierten. Stellvertretend für sie werde das Kind als Patient vorgeschoben und instrumentalisiert. Ihr Motiv: Sie wollen als fürsorgliche Mama gesellschaftlich anerkannt werden. „Viele der Frauen sind überdurchschnittlich intelligent und haben medizinische Kenntnisse.“

Bis vor wenigen Jahren war diese Form der Kindesmisshandlung in Deutschland weitgehend unbekannt. In einem Pilotprojekt hatte der Psychiater Martin Krupinski, Leiter der Abteilung für Forensische Psychiatrie am Universitätsklinikum Würzburg, schon vor einigen Jahren bundesweit Fallzahlen ermittelt. 379 Kinderkliniken wurden damals angeschrieben, mehr als die Hälfte beteiligte sich. Fazit der Studie: Bisher wurden 91 gesicherte Fälle sowie 99 Verdachtsfälle dokumentiert. „Auch wenn es eine seltene Form der Kindesmisshandlung ist, kommt sie sehr viel häufiger vor als bislang angenommen“, resümierte Krupinski. Vorsichtige Schätzungen gingen von 0,2 bis 0,4 Fälle pro 100 000 Kinder und Jugendliche bis 16 Jahren aus. Zudem gebe es eine „ernstzunehmende Anzahl bislang unentdeckter Fälle“.

Eine Untersuchung des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Leipzig hat ergeben, dass vor allem Kinder in den ersten vier Lebensjahren betroffen sind. Bei sieben bis acht Prozent von ihnen lassen sich Dauerschäden feststellen; einige sterben sogar an den Misshandlungen.

Die Täterinnen sind oft selbst Opfer gewesen

Alle bisher bekanntgewordenen Fälle – auch der aktuelle Fall in Hamburg – zeigen, dass die Täterinnen selbst ehemalige Opfer sind. Dies war auch im Fall der Tübingerin so: Ihr Vater habe sie und ihre drei Geschwister nur als Last empfunden, erzählte die damals 29-Jährige im Gerichtssaal. Mit 17 habe sie begonnen, sich selbst zu verletzen, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Als sie mit 22 schwanger wurde, verließ sie ihr Freund. Ihr Sohn sei ihr Ein und Alles gewesen, erzählt sie. Um ihn nicht hergeben zu müssen, habe sie nur gelegentlich Teilzeitjobs angenommen.

Ihre Biografie fügt sich nahtlos in das Krankheitsbild, das Experten zeichnen. Krupinski: „Solche Mütter haben ein sehr labiles Identitätsgefühl. Im manipulativen Umgang mit dem Kind bekommen sie Anerkennung und können ihre destruktiven Tendenzen ausleben.“ Manche wurden sexuell missbraucht, andere litten unter Essstörungen oder Depressionen. In der Regel sind sich die Frauen nicht der Schwere ihres Tuns bewusst.

Die Beziehung zwischen Mutter und Kind ist – wie im aktuellen Fall in Hamburg – sehr eng, ja symbiotisch. Die Mutter erlebt das Kind als Teil ihrer selbst und verletzt sich stellvertretend. „Der eigene Körper und der des Kindes sind zum Teil austauschbar“, so Krupinski. „Deswegen findet man häufig Selbstverletzungen. Wenn sie ihr Kind quälen, quälen sie sich selbst.“

Erfolgreiche Therapie? Fast unmöglich

Reinhard Plassmann hat als Ärztlicher Direktor der Kitzberg-Klinik in Bad Mergentheim immer wieder mit diesem bedrückenden Phänomen zu tun. „Münchhausen-syndrome-by-proxy-Mütter geben ihr eigenes Trauma rücksichtslos an ihr Kind weiter“, betonte der Psychiater. „Sie suchen keine Hilfe, verleugnen ihre Täterschaft.“ Eine erfolgreiche Therapie ist fast unmöglich. Kaum eine Täterin gebe zu, ihr Kind manipuliert zu haben, so Plassmann weiter. Viele zeigten nur eine „Pseudoeinsicht“ und machten auf andere Weise weiter - etwa bei Geschwisterkindern. Die Beschäftigung mit diesem Krankheitsbild habe etwas „Detektivisches“, konstatiert Plassmann. Die Ärzte müssten „Puzzlesteine zusammensetzen, bis endlich ein klares Bild entsteht“.

Das Urteil im Tübinger Fall

Im Fall der 29-Tübingerin sprach die 1. großen Strafkammer des Landgerichts Tübingen am 13.Oktober 2009 folgendes Urteil:

„Die 1. Große Strafkammer des Landgerichts Tübingen hat heute eine 30 Jahre alte Frau aus dem Kreis Esslingen wegen versuchter Misshandlung von Schutzbefohlenen mit der Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung in Tateinheit mit Misshandlung von Schutzbefohlenen und sechs gefährlichen Körperverletzungen zu der Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt . . . Laut dem psychiatrischen Sachverständigen sind bei dem vorliegenden Krankheitsbild nur eigene Kinder der Angeklagten gefährdet.

Der geschädigte Sohn lebt aber jetzt in einem Kinderheim und die bloße Möglichkeit, dass die Angeklagte erneut Kinder bekommen und sich Taten dann gegen diese richten könnten, reicht aus rechtlichen Gründen zur Anordnung der Unterbringung nicht aus.“