Hollywoods Parade-Serienmörder: Der Psychiater und Kannibale Hannibal Lecter (gespielt von Anthony Hopkins) im Spielfilm „Das Schweigen der Lämmer“ von 1991. Foto: Tobis/dpa

Wird man schon als Mörder geboren oder erst durch die Umwelt dazu gemacht? Der US-Kriminologe Adrian Raine hat dazu ein spannendes Buch geschrieben, das jetzt erschienen ist.

Jürgen Bartsch (1946-1976) ist als „Kirmesmörder“ in die deutsche Kriminalgeschichte eingegangen. Joachim Kroll (1933-1991) hatte wie Hannibal Lecter, der kannibalistische Serienmörder aus dem Roman „Das Schweigen der Lämmer“, eine Vorliebe für Menschenfleisch. Der „Heidemörder“ Thomas Holst missbrauchte zwischen 1987 und 1990 drei Frauen südlich von Hamburg, tötete und verstümmelte sie. Der Bottroper Dachdecker Frank Gust (geboren 1969) war als „Rhein-Ruhr-Ripper“ berüchtigt. Zwischen 1994 und 1998 ermordete er mindestens vier Frauen, die er sexuell missbrauchte, bevor er sie zerstückelte.

Serienmörder aus Deutschland und aller Welt

Die Liste mit Serienmördern aus Deutschland und aller Welt ließe sich beliebig fortsetzen. Was treibt Gewaltverbrecher zu solchen Bluttaten, die Abscheu, Entsetzen und Fassungslosigkeit hervorrufen, aber auch ohnmächtige Wut und den Ruf nach Gerechtigkeit und Vergeltung? „Die Saat der Sünde ist im Gehirn angelegt“, sagt der amerikanische Neurokriminologe Adrian Raine in seinem neuen Buch „Als Mörder geboren. Die biologischen Wurzeln von Gewalt und Verbrechen“. Das 517 Seiten dicke Werk, das jetzt im Klett-Cotta Verlag erschienen ist, liegt voll im Trend. Gerade in den diversen amerikanischen „CSI“-Serien spielen abnorme Serienmörder – wie Nate Haskell in der Serie „CSI: Den Tätern auf der Spur“ – eine zentrale Rolle.

In den vergangenen Jahren waren in den Medien immer wieder Berichte aufgetaucht, wonach bestimmte Gene das menschliche Verhalten massiv beeinflussen könnten. Insbesondere das MAOA-Gen – das sogenannte „Killer“-oder „Mörder“-Gen – hat die Fantasie von Hirnforschern, Kriminologen und Krimifans beflügelt. Kriminalsoziologen lehnen solche biologistischen Erklärungsversuche des Verbrechens ab. Erinnern sie doch an die sogenannte Tätertypenlehre des italienischen Gerichtsmediziners und Psychiaters Cesare Lombroso (1835-1909), in der er eine Theorie des „geborenen Verbrechers“ entwickelte.

Lombrosos Typisierung von Verbrechern anhand äußerer Körpermerkmale diente den Nationalsozialisten als Vorlage für ihre rassenbiologischen Theorien. Das ist auch der Grund, warum diese kriminologische Theorie in Verruf geraten ist. Hinzu kommt: Wenn Verbrechen und Mord determiniert sind,wo bleibt noch der freie Wille des Täters? Künftige Kriminelle anhand äußerer Merkmale wie der Schädelform oder den Augenwülsten zu erkennen, hat sich als absurd erwiesen. Andererseits sprechen die Indizien dafür, dass nicht nur soziale und psychologische Faktoren beim Verbrechen eine Rolle spielen.

Gibt es den „Natural born killer“?

Der Neuropsychologe Thomas Elbert, der an der Universität Konstanz forscht, hat tausende Gespräche mit Mördern und Kindersoldaten in aller Welt geführt. Er sagt: „In bestimmten Situationen kann man jeden Menschen zu einem Verbrecher machen. Aber man kann auch schon zum Verbrecher geboren sein.“ Wird man also tatsächlich „Als Mörder geboren“, wie auch der deutsche Titel von Raines Buch nahelegt?

„Es gibt in seltenen Fällen derart schlechte Ausgangsvoraussetzungen. Da ist genetisch schon sehr viel vorbestimmt. Dass heißt nicht, dass es ein Automatismus ist, bei dem man zwangsläufig zum Mörder wird. Aber es kann sehr schlechte Voraussetzungen in der Disposition und für bestimmte Persönlichkeitsentwicklungen geben, die schwer zu beeinflussen sind“, erklärt die Strafrechtlerin und Kriminologin Britta Bannenberg, die als Professorin an der Universität Gießen lehrt.

Der Mediziner Bernhard Horsthemke, Direktor des Instituts für Humangenetik am Uniklinikum Essen, ist der Ansicht, dass ein komplexes Zusammenspiel von Veranlagung, Umwelteinflüssen, Erziehung und Lebensweise unser Verhalten bestimmt, nicht aber einzelne Gen-Varianten. Die Umwelt hinterlasse in unserem Genom Spuren – wie wir uns ernähren oder ob wir gestresst sind. „Außerdem spielt die Epigenetik mit ihren vorgeburtlichen und frühkindlichen Bahnen eine große Rolle.“

Adrian Raine erforscht seit mehr als 30 Jahren die Grundlagen des Verbrechens. Der Professor für Kriminologie, Psychiatrie und Psychologie an der US-Universität von Pennsylvania arbeitete jahrelang als Gefängnispsychologe. Mit seinem neuen Buch „Als Mörder geboren“ will er zwischen den einzelnen Forschungsbereichen vermitteln und die noch junge Disziplin der Neurokriminologie gegen Vorwürfe verteidigen, sie würde „Gewalt auf eine psychisch-neuronale Ursache“ zurückführen oder die individuelle Verantwortlichkeit und den freien Willen aushöhlen. Raine glaubt nicht an den „Natural born killer“ – den als Verbrecher geborenen Menschen. Doch für den US-Wissenschaftler wie für andere Kriminologen und Hirnforscher steht fest: Es gibt eine „starke genetische Disposition für Kriminalität“.

MAOA-Gen und Verbrechen

Ausschlaggebend hierfür ist ein spezielles Gen, das sogenannte Monoaminoxiadse-A, auch MAOA-Gen genannt. Es spielt eine zentrale Rolle bei der Produktion von Botenstoffen im Gehirn wie Serotonin, das wie eine Art Stimmungsstabilisator wirkt. Forscher haben nachgewiesen, dass bestimmte angeborene Veränderungen dieses Gens – sogenannte Mutationen – die Neigungen zu Gewalt und aggressivem Verhalten erhöhen können. Auch veränderte Hirnfunktionen, welche die Impulskontrolle und die Stimmungsschwankungen steuern, sind als eine mögliche Ursachen für kriminelles Verhalten ausgemacht worden.

Olaf Rieß, Ärztlicher Direktor des Instituts für Humangenetik der Universität Tübingen, ist allerdings überzeugt: „Es gibt nicht ein Gen, sondern nur einen Komplex von Konstellationen und Genaktivitäten. So einfach ist das nicht, das ein Gen unser Verhalten bestimmen würde.“ Wir würden nicht von unseren Genen gesteuert, so Rieß. „Gesellschaftliche Situationen und bestimmte Umstände beeinflussen unser Verhalten erheblich.“

Erbgut oder Umwelt – was prägt mehr?

Der Mensch ist kein Gen-Roboter. Wie er sich verhält, wie lange er lebt, ob er gesund oder krank, gebrechlich oder kräftig ist, hat er zu einem großen Teil selbst in der Hand. Was also prägt den Homo sapiens stärker: das Erbgut oder die Umwelt? Fakt ist: Es sind nicht einzelne Gene, sondern eine komplexe Kombination von Genen und Umwelteinflüssen - die sogenannte Gen-Umwelt-Interaktion -, die unser Verhalten prägt. Gene können Umweltfaktoren verstärken oder abschwächen. Umgekehrt können Umweltfaktoren wie Erziehung, soziale Kontakte oder Lebensereignisse die Ausprägung von Genen und ihren Mutationen beeinflussen.

Doch weder genetische Vorbelastungen noch veränderte Hirnfunktionen können erklären, warum ein Mensch zum Soziopathen und zur reißenden Bestie wird. Niemand ist in dem Sinne zum Verbrecher geboren, dass die Biologie für ihn zur Determination und zum Schicksal wird. Der deutsche Titel von Adrian Raines Buch „Als Mörder geboren“ ist deshalb auch irreführend. Auch Raine widerspricht der Aussage, dass die Gene den Menschen zum Mörder machen. Der englische Originaltitel seines Werkes lautet weit zutreffender: „The Anatomy of Violence“ – Die Anatomie der Gewalt.

In seiner Zeit als Gefängnispsychologe untersuchte der amerikanische Kriminologe Dutzende Gewaltverbrecher und Serienmörder, deren Gehirne er mit Hilfe bildgebender Verfahren wie der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) durchleuchtete. Dabei entdeckte Raine markante Defizite in bestimmten Hirnregionen, die etwa auf eine Affektstörung und eine geringere Selbstbeherrschung sowie höhere Risikobereitschaft hinweisen.

„Den Mörder gibt es nicht“

„Den Mörder gibt es nicht“,unterstreicht die Kriminologin Britta Bannenberg. „Motive sind sehr unterschiedlich, Persönlichkeiten auch.“ Auch die Umwelt hinterlasse ihre Spuren, betont die Strafrechtlerin. Ob jemand in extrem gewalttätiger Form agiere, habe auch damit zu tun, in welchem Umfeld er aufwächst. Erwachsene seien lange Jahre prägend für die frühen Erfahrungen. „Wird von Erziehungspersonen Gewalt ausgeübt und befürwortet, fehlt es an warmherzigen Beziehungen und an Verhaltenskontrolle, sind das gewalt- und kriminalitätsfördernde Voraussetzungen. Merkt ein Kind, dass es sich mit Rücksichtslosigkeit und Gewalt erfolgreich durchsetzen kann, lernt es, Gewalt positiv zu bewerten. Deshalb würde ich Horrorszenarien wie ‚Als Mörder geboren‘ auch nicht an die Wand malen.“

Ernährung, Schadstoffe, Erziehung, Stress, Hirnentwicklung – all das spielt eine Rolle

Drogenmissbrauch der Mutter während der Schwangerschaft, organische Schäden in der Kindheit durch falsche Ernährung, Schadstoffe oder Stress können die Hirnentwicklung negativ beeinflussen. Anhand von zahlreichen Fallgeschichten beschreibt Raine dies detailliert und packend wie in einem Kriminalroman.

„Gut aufgemacht mit spannendem Titel, aber inhaltlich nicht ganz so spektakulär“

Adolf Gallwitz, ein renommierter Polizei-Psychologe, Psychotherapeut und Profiler an der Polizeihochschule in Villingen-Schwenningen, hält Raines „Opus magnum“ für ein „gut aufgemachtes und mit einem spannenden Titel versehenes Buch“, das „inhaltlich nicht ganz so spektakulär“ sei. Es gehe dabei vor allem um das alte und zugleich neue Thema Freiheit des Willens.

„Die radikalste Frage aus dem Bereich der Neurophysiologie und Neuropsychologie ist, ob der Mensch überhaupt eine Freiheit der Wahl hat. Hier geht es um das sogenannte Aktionspotenzial. Wenn wir glauben, wir hätten eine Entscheidung nach links oder rechts abzubiegen getroffen, dann hat sich unser Gehirn kurz vorher schon für eine Alternative entschieden“, erklärt Gallwitz. Und weiter: „Wir haben die Illusion, diese Alternative bewusst gewählt zu haben. Konsequenz aus diesem Denken wäre eine Revolution des Strafrechts, weil alle Menschen für das Verhalten ‚entschuldigt‘ wären.“

Gallwitz macht darauf aufmerksam, dass die Forschungen und Metaanalysen von Raine und anderen Neurokriminologen schon einige Jahre zurücklägen. In ihnen hätte die Untersuchung der Stoffwechselaktivität des Gehirn in verschiedenen Situationen sowie grundsätzlich im Fokus gestanden. Gallwitz: „Dem geht voraus, dass in den GUS-Staaten schon vor Jahrzehnten Zehntausende ‚Reihenuntersuchungen von Soldaten‘ mit bildgebenden Verfahren, im Rahmen der Eignungsuntersuchung gemacht wurden, um sie mit später auffällig gewordenen Menschen vergleichen zu können. Die Ergebnisse könnten dann ‚vorhersagenden Charakter‘ haben.“

Zurück zu Raines lesenswertem Buch: „Als Mörder geboren“ gibt darin tiefe und zugleich entsetzliche und grausige Einblicke in die Seelen von Serienmördern wie Jeffrey Landrigan. Dieser wurde als Baby in eine amerikanischen Bilderbuchfamilie adoptiert und landete nach mehren Morden schließlich im Gefängnis. Dort lernte Landrigan seinen biologischen Vater kennen, einen zweifachen Mörder und Schwerkriminellen.

Oder Richard Speck, der 1966 eine Schwesternwohnheim in Chicago überfiel und acht Frauen mit einem Messer tötete. Er war der Erste, bei dem Mediziner einen Gen-Defekt fanden. Dieser Fall löste in den USA überhaupt erst die Debatte über die mögliche Existenz eines „Killer-Gens“ erst aus.

Traumatisierungen, Kränkungen und Gene

„In ‚gewisser Weise‘ werden wir asozial, unfähig zum friedlichen Zusammenleben und im Extremfall als Mörder geboren“, sagt Gallwitz. „Ob wir jedoch zu Mördern werden, hängt von vielen Faktoren ab.“ Wie sich soziale und genetische Faktorern gegenseitig bedingen, illustriert der Kriminologe an folgendem Beispiel: Ein Menschen hat eine Disposition für schwere Straftaten im Bereich Körperverletzungsdelikte. Ein Teil dieser „Disposition“ sei eine angeborene Art und Weise, Umwelt, Gewalt, Bedrohungen oder Kränkungen wahrzunehmen. Wobei Wahrnehmung nie passiv sei. Gallwitz spricht hier von sogenannten Wahrnehmungsschemata: „Wir sehen zum Teil das, was wir sehen wollen schon auf der Ebene der Verarbeitung der Reize.“ Ein Teil davon sei die Reaktionsempfindlichkeit auf Kränkungen.

Für beide Faktoren hätten die von Raine erwähnten Gehirnregionen eine große Bedeutung, so Gallwitz. „Überlagernd sind jedoch eigene Traumatisierungen. Hirnphysiologisch verändern Traumata die Art der Informationsverarbeitung und letztlich morphologisch auch das Gehirn. Das heißt, wir können mit bildgebenden Verfahren auch nachweisen, dass jemand viel neurotoxischen Stress erlebt hat.“ In ähnlicher Weise überlagernd wirke auch unsere gesamte Sozialisierung, welche die „Bahnungen der Nervenaktivität“ beeinflusse.

Kann man die „künftigen Hannibal Lecters“ schon frühzeitig erkennen?

Ob man „die künftigen Hannibal Lecters“ in Zukunft frühzeitig identifizieren und betreuen kann, um auf diese Weise potenzielle Verbrechen zu verhindern, wie Adrian Raine mutmaßt, darf bezweifelt werden. Der amerikanische Neurokriminologe überschätzt hier die Möglichkeiten der Verbrechens-Prävention mit Hilfe der Neurowissenschaften ganz erheblich.

Das Buch

Adrian Raine, Als Mörder geboren. Die biologischen Wurzeln von Gewalt und Verbrechen. (Originaltitel: The Anatomy of Violence), Klett-Cotta Verlag 2015, 517 Seiten, 28,95 Euro.