Am Ziel: Tobias, Charlotte, Jasmin, Anne, Svea, Anton, Florian, die Lehrer Jens Kaufmann und Brigitte Becker sowie Pascal und Alexander (von links) Foto: Siri Warrlich

Zehn Schüler aus Leonberg radeln in fünf Tagen über die Alpen. Einer muss abbrechen, viele können am Ende kaum noch gehen. Warum tun sie sich das an?

Riva del Garda - Die Mittagspause liegt nur einen Müsliriegel entfernt. Dann die Schrecksekunde: „Nein!“, tönt es ein Stück weiter unten am Berg. Kein Schrei, eher ein Flehen. Tobi ist die Wasserflasche aus der Hand gefallen. In seinem Gesichtszügen liegt nackte Angst. Doch die Wasserflasche rollt gegen seinen Fuß und nicht den Berg hinab. Gott sei Dank! Ob Tobi, ein junger, sportlicher Kerl, aber momentan am Ende seiner Kräfte, hier ein zweites Mal hinaufgestrampelt wäre, ist sehr fraglich.

„Seminarkurs Alpencross“. Diesen unschuldigen Titel trägt das Projekt, zu dem sich Tobi und seine Mitschüler am Beruflichen Schulzentrum Leonberg angemeldet haben. Ein Seminarkurs ist ein zusätzliches Fach in der Oberstufe. Ein Jahr lang arbeiten die Teilnehmer an einem bestimmten Thema, recherchieren, halten Präsentationen – zum Beispiel zu der Frage, wie man mit dem Fahrrad die Alpen überquert. Wer einen Seminarkurs gemacht hat, kann beim Abitur die fünfte Prüfung streichen. Biken statt büffeln? Das klang für Tobi und seine Mitstreiter nach einem verlockenden Angebot.

Hier und heute, irgendwo so halbwegs in der Mitte zwischen dem verschlafenen Alpendorf Tuenno nahe Bozen und dem Gardasee, auf der letzten von fünf strapaziösen Etappen, nach vier Tagen auf dem Mountainbike, mit 6000 Höhenmetern in den Knochen, mit Sonnenbrand, Rückenschmerzen und wunden Stellen am Hintern sehen manche in der Gruppe das etwas anders. „Die Lehrer haben gesagt, wir würden an unsere Grenzen gehen“, sagt Charlotte. „Aber man kann sich ja vorher überhaupt nicht vorstellen, was das heißt.“

Der Spaß hat ein Ende

Ganz am Anfang der letzten Tagesetappe, kurz nach dem Frühstück, als das Licht noch mild und das Leben noch schön war, ging es tatsächlich mal ein paar Kilometer bergab. Das war toll. Der Wind summte in den Ohren. Der Blick schweifte in die Ferne. Die Straße flog nur so unterm Rad hinweg.

Doch der Spaß fand ein jähes Ende. Eigentlich kann das erst ein oder zwei Stunden her sein. Wie eine Ewigkeit fühlt es sich an. Inzwischen gibt es nur noch eine einzige Richtung, und die heißt: bergauf. Auf Asphalt zunächst, dann auf Schotter. Mal auf groben Steinen, auf feinen, mal in der Sonne, mal im Wald. Alles völlig wurscht mittlerweile.

Charlotte stemmt sich gegen den Lenker, setzt einen Fuß vor den anderen und stolpert sich Meter für Meter den Berg hinauf. Gerade eben, weiter unten, war die 18-Jährige noch sehr schlau gewesen. Als der Weg eine Kurve machte, an einer tiefen Pfütze, hatten ihrer Mitschüler es gewagt zu hoffen. Kurz glaubten sie, wieder aufs Rad steigen zu können. Nicht Charlotte. Die junge Frau mit den langen braunen Haaren ahnte, dass das nichts bringen würde, und schob weiter.

„Es nimmt einfach kein Ende“

An diesem Hang, im Schatten immerhin, macht auch Charlotte einen Fehler. Sie hebt den Blick. Und verzweifelt fast an dem, was sie da sieht. Alpencross ist wie Bungee-Jumping, nur umgekehrt: Bloß nicht nach oben gucken! „Es nimmt einfach kein Ende!“, ruft Charlotte. Und das Echo verleiht ihren Worten hier oben durchaus etwas Dramatisches.

Die Schüler sollen lernen, sich durchzubeißen und selbstständiger zu werden – das sind für Brigitte Becker, 50, und Jens Kaufmann, 47, die wichtigsten Ziele des Projekts. Die beiden Lehrer, passionierte Mountainbiker, haben sich ein Jahr lang mit ihrer Alpengruppe vorbereitet: im Fitness-Studio beim Spinning und Krafttraining, im Schulunterricht mit Themen wie Ernährung und Navigation.

Die Streckenführung vom Schliersee in Bayern bis nach Riva del Garda am Gardesee, 386 Kilometer und insgesamt 7600 Höhenmeter, haben die Schüler aus vier Alternativen selbst ausgewählt. Gewitzt. So sind die Lehrer aus dem Schneider, wenn kurz vor der Mittagspause auch die größten Optimisten die Sinnfrage nicht mehr ausblenden können. Hannibal hatte für seine Alpenüberquerung damals wenigstens einen guten Grund. Ihm ging es um die Zukunft Karthagos. Aber was in aller Welt haben Leonberger Abiturienten hier verloren?

Gianluca muss abbrechen

„Sie sollen eine Herausforderung haben, aus der sie nicht mehr rauskommen“, sagt die Lehrerin Becker. „Natürlich könnten sie sagen, dass sie nicht mehr können und nach Hause wollen. Aber das wäre ja ein Gesichtsverlust gegenüber den anderen. Also fahren sie weiter, komme, was wolle.“

Oder müssen, wie in Gianlucas Fall, notgedrungen abbrechen. Dem 18-Jährigen wurde gleich zu Beginn ein Defekt zum Verhängnis. Der Dämpfer am Hinterrad ging kaputt. Im gesamten Umkreis gab es keinen Fahrradladen, der das Teil vorrätig hatte. Gianluca musste schweren Herzens mit dem Zug nach Hause fahren. Der Rest kämpfte sich bis zur letzten Etappe – und beneidete ihn vielleicht ab und an.

Mittagspause in Molveno. Wer den Ort bei Google eingibt, bekommt jede Menge Fotos mit Skiliften angezeigt. Erschöpft plumpsen die Schüler auf die Wirtshausstühle. Auch der Lehrer Kaufmann, dem bisher noch kein Anstieg das breite Lächeln aus dem Gesicht wischen konnte, kann sich einen Hauch Erschöpfung nicht verkneifen. Heftig seien die Rampen gewesen. „Wer diese Wege gebaut hat, ist ein Folterknecht“, sagt er und schiebt sich noch eine Gabel Tagliatelle mit Steinpilzen in den Mund.

Pasta, alle haben Pasta bestellt. Anton noch einen Teller Kartoffeln dazu. Zwar ist beim Alpencross keine Waage verfügbar, aber er hat zweifellos den schwersten Rucksack. Das könnte daran liegen, dass der 18-Jährige bei seiner ersten Alpenüberquerung unter anderem eine Thermoskanne und eine elektrische Zahnbürste mit sich führt. Als die Packliste besprochen wurde, habe er leider gefehlt, erklärt er.

Es geht bergab!

Die Lehrer zeigen Erbarmen. Sie ändern die Route, das Tagespensum von 1700 Höhenmetern ist nicht mehr zu schaffen. San Giovanni, der letzte Übergang in den Bergen, wird also zugunsten einer flacheren Route gestrichen. Etwa zwei Stunden vor dem Ziel mahnt Kaufmann ein letztes Mal auf diesem Alpencross: „Diese Abfahrt hat es in sich. Wichtig: die Abstände groß lassen! Und eure Bremsen werden ziemlich warm werden – nicht mit den Fingern drankommen! Ich halte an, wenn es eine Abzweigung gibt. Okay?“ Zustimmendes Gemurmel. „Viel Spaß!“

Und dann passiert, woran kaum noch einer geglaubt hatte: Es geht bergab. Ganz lange nur bergab. Die Räder rappeln über das grobe Pflaster. Vorbei an kleinen Gartenparzellen und einem runzeligen Opa, der verdutzt von seinem Beet aufblickt.

Geschafft? Das wär zu leicht. Auf den letzten zwanzig flachen Kilometern durch einen Weinberg herrscht heftiger Gegenwind. Auch voll egal jetzt. Brigitte Becker gibt Gas, als werde sie gejagt. Nur Anton kann noch mithalten – trotz elektrischer Zahnbürste. Der Rest der Truppe tritt sich irgendwo weiter hinten durch diesen letzten Abschnitt.

Selfies für die Freunde daheim

Im Tal sammeln sich alle wieder. Eine Gruppe junger Leute kommt ihnen in Badehosen und mit Handtüchern um den Nacken entgegen. Das kann ja eigentlich nur heißen, dass . . . Die Sonne scheint, die Wellen rauschen. Sie sind am Gardasee!

Freudengeschrei? Luftsprünge? Dafür fehlt die Energie. Charlotte, Jasmine, Svea und Anne, die vier Mädchen in der Gruppe, umarmen sich, steigen langsam vom Rad. Von den Jungs klatschen manche mit den Lehrern ab. Anton isst einen Snack. Und dann rein ins Wasser, mit den Füßen erst einmal nur. Selfies schießen, gleich zu den Freunden nach Deutschland schicken.

„Das ist ja in der Schule oft so“, sagt Anne später, „dass man aufgibt – zum Beispiel, wenn man etwas nicht versteht in Mathe.“ Auf dem Weg hierher aber hat sie nicht aufgegeben, auch wenn sie manchmal ganz nah dran war. „Mir hat das was fürs Leben gebracht“, sagt Anne. „Ich weiß, dass ich alles schaffen werde – weil ich das hier geschafft habe.“