In der Volksmedizin beruhigt Tee aus Mistelkraut die Nerven, lindert Epilepsien und Krämpfe von Kindern, hilft bei leichten Herzbeschwerden und reguliert den Blutdruck. Heute werden Mistelpräparate vor allem von Tumorpatienten eingenommen. Foto: dpa

Beim Kampf gegen Krebs setzen neben Chemo- und Strahlentherapie immer mehr Patienten auch auf naturheilkundliche Verfahren wie der Misteltherapie. Ob diese hilft, gilt als umstritten – doch es finden sich immer mehr Fürsprecher – auch in Stuttgart.

Stuttgart - Wer im botanischen Garten von Hohenheim spazieren geht, kann sehen, wie besitzergreifend Pflanzen sein können: zwischen den herbstlich gefärbten Laubbäumen steht die Silberweide noch grün da – dank der Misteln, die den Baum überwuchern. Um die hundert der vogelnestartigen Büschel zapfen die Äste der Weide an. „Sie versuchen so an Wasser und einen Teil der Nährstoffe zu kommen, an die die Mistel allein nicht herankommen kann“, sagt Robert Gliniars, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Botanischen Gärten Hohenheims. Experten wie Gliniars bezeichnen die Mistel daher botanisch korrekt als „Halbschmarotzer“. Im Volksmund jedoch hat die Mistel eine ganze Fülle von Namen wie „Hexenkraut“ oder „Donnerbesen“. Gliniars bestätigt: „Es gibt viele abergläubische Bräuche, mal gilt sie als giftig und böse, mal als Glücksbringer.“

Die Mistel hat eine lange Tradition als Heilpflanze

An der Mistel scheiden sich auch die wissenschaftlichen Geister. Insbesondere, wenn es um ihre Heilkraft geht. „Die Mistel hat eine lange Tradition als Heilpflanze“, bestätigt Wolfgang Kreis, Professor für Pharmazeutische Biologie an der Universität Erlangen. In der Volksmedizin beruhigt Tee aus Mistelkraut die Nerven, lindert Epilepsien und Krämpfe von Kindern, hilft bei leichten Herzbeschwerden und reguliert den Blutdruck. Heute werden Mistelpräparate vor allem von Tumorpatienten eingenommen: Nach Zahlen des Robert-Koch-Instituts nutzt rund jeder zweite Krebspatient in Deutschland zusätzlich zur Standardbehandlung mindestens eine Komplementär- oder Alternativmedizin. Die Misteltherapie gehört dabei zu den am häufigsten verwendeten Naturheilmitteln.

Die Einschätzung, dass Mistel auch bei Krebsleiden helfen soll, kam bereits Anfang des 20. Jahrhunderts mit Rudolf Steiner auf, dem Begründer der Anthroposophie. „Er bezog sich dabei auf die Analogie zwischen dem parasitären Wachstumsmuster der Mistel und des Tumors“, sagt Wolfgang Kreis. Doch erst vor rund 20 Jahren begann die wissenschaftliche Erforschung der Mistel als Krebsbekämpfungsmittel.

Misteltherapien sind hauptschlich in anthropsophischen Kliniken üblich

Heute greifen vor allem Ärzte anthroposophisch geführter Kliniken zu Mistelpräparaten. So auch in der Filderklinik im Landkreis Esslingen. „Wir empfehlen allen unseren Krebspatienten die Mistelpräparate als begleitende Maßnahme zusätzlich zu den Standardtherapien wie Chemo- oder Strahlentherapie“, sagt der Chef der Onkologie, Stefan Hiller. Die Patienten fühlten sich besser. Sie hätten mehr Appetit und eher Lust sich zu bewegen oder etwas zu unternehmen. Die positiven Effekte sind auch dem Pharmazeut Wolfgang Kreis bekannt: „Die Inhaltsstoffe der Mistel können durchaus zur Verbesserung der Abwehrlage, des Allgemeinbefindens und der Lebensqualität beitragen.“

Studien, die diese Effekte wissenschaftlich belegen wollen, gibt es durchaus: Eine der bekanntesten ist wohl eine 2013 veröffentlichte serbische Untersuchung, nach deren ersten Ergebnissen Patienten mit fortgeschrittenem aggressivem Bauchspeicheldrüsenkrebs von einer Misteltherapie deutlich profitierten: Sie lebten zwei bis drei Monate länger und das mit mehr Lebensqualität. Allerdings wird eben dies von Kritikern der Misteltherapie bezweifelt. Ihr Vorwurf: Die Studie habe schwere methodische Mängel.

Studienlage zur Wirksamkeit ist dürftig

Tatsächlich macht es die Mistel der Wissenschaft schwer, ein eindeutiges Urteil zu fällen: Zuletzt wurde 2015 eine Meta-Analyse sämtlicher Studien zur Wirksamkeit der Misteltherapie vorgenommen – mit dem Ergebnis, dass es zwar Hinweise gebe, dass diese die Lebensqualität von Patienten während einer Chemotherapie verbessern kann. Auch zeigten manche verbesserte Überlebenschancen. Allerdings sei die Qualität der Studien so kritisch, dass eine abschließende Bewertung nicht möglich sei.

Anhänger der Misteltherapie lassen sich davon nicht entmutigen. Im Gegenteil: In Stuttgart hat ein kleiner Kreis von Ärzten und Wissenschaftlern die Stiftung „Integrative Medizin“ gegründet. „Nach unserer Überzeugung versprechen schulmedizinische und alternative Therapien aus der Naturheilkunde, die nebeneinander angewandt werden, den größten Heilungserfolg“, sagte Wolfgang Schuster, einer der Stiftungsgründer bei der Jahresfeier am vergangenen Sonntag.

Antrag für neue Studie bei Gehirntumor-Patienten liegt vor

Das soll nun eine US-amerikanische Studie der Harvard University in Kooperation mit deutschen Kliniken zeigen, die von der Stiftung mitfinanziert werden soll: Etwa 150 Patienten des Massachusetts General Hospital in Boston, die an einem bestimmten Gehirntumor erkrankt sind, sollen zusätzlich zur Chemo- und Strahlentherapie auch mit Mistelpräparaten behandelt werden. Mitwirken werden dabei auch die Charité in Berlin und das Freiburger Universitätsklinikum. Auch die Unikliniken Tübingen und Ulm würden großes Interesse daran zeigen, sagt Schuster. Wann die Studie anlaufen soll, hängt von der Deutschen Krebshilfe ab. Der Antrag zur Finanzierung der bis zu 1,5 Millionen Euro teuren Studie sei schon eingereicht, so Schuster.

Ob die Ergebnisse der Studie die von den Stiftungsgründern erhoffte allgemeine Anerkennung der Mistel als Heilmittel bringen, wird sich zeigen. Bislang ist es Krebspatienten in Deutschlandfreigestellt, in der Apotheke nach Mistelpräparaten zu fragen. Die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen die Kosten aber nur, wenn die Patienten sich bereits im palliativen Stadium befinden – also eine Heilung nicht mehr möglich ist.

Mistelpräparate nie ohne ärztliche Rücksprache verwenden

In der Regel werden die Lösungen in oder unter die Haut gespritzt. Beim Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg heißt es: „Die allermeisten Patienten vertragen die Behandlung gut. Die Misteltherapie gilt als vergleichsweise sicher.“ Allerdings warnen die Krebsforscher vor dem unbedachten Imgang: Es gibt zur Anwendung der Mistelpräparate, keine verbindlichen Auskünfte – weder von Herstellern noch von Experten.

Auch in der Filderklinik lehnen die Ärzte eine Misteltherapie ohne ärztliche Begleitung ab. „Die Therapie muss individuell auf die Patienten und mit ihrem Medikamentenplan abgestimmt werden“, sagt Stefan Hiller. Ansonsten können auch pflanzliche Mittel Nebenwirkungen entfalten. Dass er mit dieser Abwägung auf einem guten Weg ist, sieht er nicht nur anhand seiner Patienten: In jüngster Zeit bekommt die Filderklinik Besuch von Belegschaften anderer Krankenhäuser, die zuvor der Naturheilkunde nicht groß Beachtung geschenkt haben. „Wir sind soweit, dass die Schulmedizin sich für die komplementäre Medizin interessiert.“