Kardinal Walter Kasper wurde 2001 zusammen mit dem heutigen Papst in den Kardinalsstand erhoben. Foto: AFP

Von Donnerstag bis Sonntag kommen im Vatikan die Vorsitzenden der Bischofskonferenzen zusammen, um sich dem Thema Missbrauch anzunehmen. Der deutsche Kardinal Walter Kasper fordert strukturelle Reformen und berichtet über seine Erfahrungen mit Opfern und Tätern.

Rom - Der deutsche Kardinal Walter Kasper fordert bei der Aufarbeitung von Kindesmissbrauch unabhängige Gerichte innerhalb der katholischen Kirche.

Kardinal Kasper, in seinem Einladungsschreiben an die Vorsitzenden der Bischofskonferenzen für die anstehende Missbrauchs-Konferenz hat Papst Franziskus den Teilnehmern die Aufgabe gestellt, mit Opfern zusammenkommen. Haben Sie schon Menschen getroffen, die innerhalb der Kirche Opfer von Missbrauch wurden?

In der Zeit, in der ich Bischof war, in den 1990er Jahren, war das Thema Missbrauch nicht so aktuell wie heute. Aber ja, ich habe damit zu tun gehabt. Das waren ganz unterschiedliche Erfahrungen. Viele Opfer sind schwer enttäuscht, sehr betroffen und haben traumatische Wunden davongetragen. Manche hatten das Erlebte zum Teil schon überwunden. Das hängt von der Persönlichkeit ab und auch davon, was ein Mensch sonst für Erfahrungen in seinem Leben gemacht hat. Gerade deshalb scheint es mir am allerwichtigsten, dass man diesen Menschen begegnet. Man muss mit den Opfern reden, sie anhören und ernstnehmen, ihnen Verständnis und Bedauern entgegenbringen.

Die Erwartungen der Öffentlichkeit an das Treffen kommende Woche im Vatikan sind sehr hoch. Was erhoffen Sie sich?

Drei Dinge. Erstens, dass das Schwerwiegende dieser ganzen Sache bewusstgemacht wird. Das ist in Deutschland praktisch schon der Fall, wie auch in den Vereinigten Staaten oder in Irland. Aber die Welt ist größer, und es gibt Regionen, in denen nur wenig Bewusstsein für das Thema Missbrauch vorhanden ist. Auch die Einstellungen zur Sexualität oder zum Verhältnis der Geschlechter, die einfach kulturell sehr verschieden sind, muss man bedenken. Zweitens erwarte ich, dass man über die rechtlichen Mittel informiert, die ein Bischof hat und die er auch anwenden muss. Auch das geschieht bei uns bereits, daher werden sicher viele sagen: Das ist doch normal. Aber leider ist es das global gesehen eben nicht. Meine dritte Erwartung ist, dass Überlegungen angestellt werden, was jetzt noch unternommen werden muss. Wir sind ja noch nicht am Ende der Fahnenstange. Rechtliche Vorgaben kann man nicht in wenigen Tagen erstellen, dazu ist diese Konferenz auch gar nicht befugt.

Sie sagen es, in dreieinhalb Tagen kann man nicht viel auf den Weg bringen. Bei der Jugendsynode saßen die Kirchenoberen vier Wochen lang zusammen. Hätte man nicht dort das Thema Missbrauch in den Mittelpunkt stellen können?

Eine Synode wird im Allgemeinen ein, zwei Jahre lang vorbereitet. Da ist immer ein sehr langer Vorlauf notwendig. Wenn man kurzfristig agieren will, muss man das tun, was man kurzfristig tun kann. Ein Treffen dieser Art ist ein Novum. Dieses Treffen ist ein wichtiger Schritt, auf dem man zwar nicht alle Erwartungen abladen sollte, der aber ein Ausgangspunkt ist, von dem aus man sehen muss, wie man weitergeht.

Wohin müsste der Weg führen?

Das wichtigste scheint mir der Aufbau einer Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Kirche zu sein, was auch schon lange gefordert wird. Man muss in jeder Diözese Ansprechpartner haben, an die man sich wenden kann, Verwaltungsgerichte, wo man sich beschweren kann, wenn nichts geschieht. Natürlich muss sich auch jemand, der als Täter angeklagt wird, beschweren können. Dazu braucht es unabhängige Verwaltungsgerichte, die nicht nur von Klerikern besetzt sein sollten. Wir haben viele Frauen und Männer, die Kirchenrecht studieren. Es gäbe genug Leute, die man beauftragen könnte.

2005 sprach Joseph Ratzinger noch als Kardinal vom „Schmutz in der Kirche“. Klare Worte, die zuvor niemand so aussprach. Wie haben Sie diese damals aufgenommen?

Ich habe diese Worte als sehr ehrlich empfunden und sie wurden ja auch von vielen sehr aufmerksam registriert. Es ist ohnehin das Verdienst des damaligen Kardinal Ratzinger, dass er diese Frage hier in Rom aufgegriffen und eine Kursänderung eingeleitet hat. Und zwar gegen große Widerstände. Als Papst hat er dann 2010 die Verpflichtung festgeschrieben, in Missbrauchsfällen mit den staatlichen Behörden – Staatsanwaltschaft und Ähnlichem – Kontakt aufzunehmen und zusammenzuarbeiten. Bei sexuellem Missbrauch handelt es sich um eine schwere Sünde, aber eben auch um ein Verbrechen.

Papst Franziskus hat 2018 in einem emotionalen Brief an die Gläubigen vom Schmerz der Opfer geschrieben, als eine „Klage, die zum Himmel aufsteigt“. Andererseits hat er in Chile bei Missbrauchsfällen von „Verleumdungen“ gesprochen und den australischen Kardinal George Pell, der sich vor Gericht verantworten musste und auch verurteilt wurde, aus „Altersgründen“ aus dem Dienst entlassen. Wie glaubwürdig ist Franziskus beim Thema Missbrauch?

Ich nehme ihm seine persönliche Betroffenheit voll ab. Gerade wenn es um Kinder geht, ist sexueller Missbrauch ein so abscheuliches Verbrechen. Ein Priester, der so etwas tut, muss innerlich und geistlich verwahrlost sein. Zur Sache in Chile: Der Papst ist natürlich auf Informationen anderer angewiesen. Offensichtlich ist der Fall ihm gegenüber verharmlost worden. Das gibt es eben auch, da muss man aufpassen. Er hat es dann sofort prüfen lassen und als die Sache klarer war, hat er sich entschuldigt. Es wird oft gefordert, der Papst müsse direkt am nächsten Tag handeln. Schauen Sie doch einmal, wie lange weltliche Gerichte bei schwierigen Fällen brauchen, bis sie zu einem Urteil kommen. Es ist juristischer Brauch, dass man sich Zeit nimmt, alles genau zu prüfen. Auch das australische Rechtssystem muss man respektieren. Deshalb verstehe ich, dass man im Falle von Kardinal Pell „Altersgründe“ angegeben und keine Vorverurteilung ausgesprochen hat.

Nicht nur Kardinal Pell, auch der US-amerikanische Kardinal Theodore McCarrick wird des Missbrauchs beschuldigt. Menschen, die quasi zu den höchsten Würdenträgern der Kirche zählen. Was macht das mit Ihnen, zu wissen, dass diese Männer, mit denen Sie jahrelang eng zusammengearbeitet haben, zu den Tätern zählen?

Vor allem vor McCarrick hatte ich sehr hohe Achtung. 2001 wurde er mit mir zusammen in den Kardinalstand erhoben, Jorge Bergoglio – Papst Franziskus – übrigens auch. Gerade bei diesen Enthüllungen war ich zutiefst erschüttert und betroffen. Was so etwas mit einem selbst macht? Man fühlt sich mitbeschämt.