Am Kreuz: Szene aus dem Kloster Ettal, Schauplatz von vielfältigem Missbrauch – und Ort (heute) gründlicher Aufklärung Foto: picture alliance / dpa

Jahrhundertelang galt unter Ordensfrauen Sexualität, Versuchung, Gewalt und Aggression als großes Tabu. Nun arbeiten sie erstmals den sexuellen Missbrauch in den eigenen Reihen auf. Das Ergebnis: Viele Mitschwestern waren nicht nur Mitwisser sondern auch Opfer.

München - Sie reden von „unvorstellbar grauenhaften Erzählungen“, von Betrug, von „Lebenslügen“, ja gar von „Seelenmord.“ Sie gestehen sich ein, dass ein Ende noch lange nicht absehbar ist, dass sie bisher nicht einmal der Vergangenheit Herr geworden sind, und sie geben zu, dass erschreckende Taten „auch heute noch geschehen.“ Sie tun es mit einer bisher beispiellosen Brutalität und – übers Internet – in einer nie erlebten Offenheit: Gut neun Jahre, nachdem Berichte aus einem Berliner Jesuiten-Kolleg jene Lawine an Missbrauchsenthüllungen in der katholischen Kirche Deutschlands ausgelöst haben, sind mehr als 200 deutsche Ordensobere und –oberinnen in Vallendar bei Koblenz zusammengekommen, um zu sichten, was in ihren Heimen, Schulen, Kindergärten, Klöstern an Missbrauch geschehen ist, an sexuellen und/oder geistlichen Vergewaltigungen, was an Aufklärung, Aufarbeitung, Prävention.

Bisher waren Ordensgemeinden ausgespart worden

In der sogenannten MHG-Studie vom Herbst vergangenen Jahres, erstellt im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz, waren die Ordensgemeinschaften ja ausgespart worden. Zu zersplittert sei diese Landschaft, hatte es geheißen, in Auflösung begriffen obendrein. Die MHG-Studie erfasste die Zeit seit 1946 und machte – bei hoher Dunkelziffer – 1670 Weltgeistliche für den Missbrauch an 3677 Minderjährigen verantwortlich. Aber zahlreiche Ordensgemeinschaften sind in diesem langen Zeitraum selbst untergegangen oder bestehen nur noch aus ein paar hochbetagten Nonnen im Pflegeheim. Klöster sind zu; Archive, wenn sich dort denn etwas fände, zerstreut.

„Wir wissen nicht genug, was geschehen ist“, gibt nun auch die Vorsitzende der Deutschen Ordensobern-Konferenz (DOK), Schwester Katharina Kluitmann, zu. Eine „eigene Erhebung“ sei nun einstimmig beschlossen worden.

Das Ende des Schweigens

Im Blick der Ordensgemeinschaften auf sich selbst hat sich also etwas verändert. Die Leitlinien und die Rahmenordnung gegen Missbrauch, die man sich 2014 gegeben hat im Glauben, damit rationalisiere und erledige sich das Problem, sie reichen nicht mehr. Denn auch innerhalb der Klöster ist nunmehr der Deckel des Schweigens weggeflogen.

Ordensfrauen, die jahrhundertelang unter einem „überzogenen und symbolisch überlagerten Bild der jungfräulichen Reinheit“ keine Sprache hatten für Sexualität, Versuchungen, Gewalt, Aggression, sie reden auf einmal über diese Themen.

Viele Mitschwestern sind Opfer sexueller Gewalt

Und ihr ganzes Kloster, so berichtet es Schwester Anna-Luisa Kotz aus dem schwäbischen Untermarchtal, erlebt plötzlich, „dass Schwestern von uns nicht nur Täterin, Mitwisserin und Mitläuferin sind, sondern auch Opfer, Betroffene und Überlebende. Die Zahl der Mitschwestern mit Erfahrungen von sexueller Gewalt ist erschreckend hoch, durch alle Generationen hindurch.“ Für junge Frauen, die nach traumatischen Missbrauchserfahrungen in ihrer Kindheit einen „Schutzraum“ im Kloster gesucht hätten, wiederhole sich sexueller oder geistlicher Missbrauch genau in dieser Gemeinschaft. Und nicht nur Kleriker, also Männer, stünden im Verdacht: „Es gibt Anschuldigungen des sexuellen Missbrauchs durch Schwestern. In diesem Bereich stehen wir nach wie vor erst am Beginn des Tabubruchs.“

Dauernde Frustration

Das heißt: es gibt den Gegensatz nicht mehr zwischen den „Opfern“, den „Traumatisierten“ draußen und der frommen Welt drinnen. Diese psychohygienisch für eine Weile hilfreiche „Abspaltung“ des Geschehens funktioniert nicht mehr. Als traumatisiert erfahren sich nun ganze kirchliche Gemeinschaften. Das verändert die Perspektiven; das lässt bisher anscheinend feststehende Begriffe wie Täter, Opfer, Mitwisser ins Wackeln geraten. Schuld sind alle: Wie stehen wir voreinander da? Wie können wir uns in die Augen schauen? Das sind auf einmal die Leit- und Leidfragen, die in Vallendar aufgeplatzt sind wie Eiterbeulen – in der Öffentlichkeit auch noch, vor allen anderen Ordensgemeinschaften, vor denen man sich in der Isolation des eigenen Klosters bisher genauso abgeschottet hat wie vor „der“ Welt.

Gehirnwäsche im Kloster

„Totale Institutionen“ seien da drinnen geschaffen worden, sagt Schwester Katharina Kluitmann: Mit Denkverboten, Kontaktverboten, „Gehirnwäsche“ und mit mental „leicht inzestuösen Strukturen.“ Das reine klösterliche Leben werde allzu sehr, mitunter geradezu sektenartig, idealisiert. Zwischen Überhöhung und Erniedrigung aber tue sich „ein Raum dauernder Frustration“ auf. Menschlich Normales werde ausgeblendet. „Die Kirche lebt aus hohen Idealen. Doch sie allein ermöglichen kein Leben. Es braucht den anderen Pol, die Realität mit ihren Gefühlen und Bedürfnissen.“

Offen spricht die Franziskanerin von Mitschwestern, die unter Erniedrigung und Überforderung zusammenbrächen. Und: „Geistlicher Missbrauch wird nicht erst dann schlimm, wenn er zu sexuellem Missbrauch führt, auch wenn man das leider oft so lesen kann. Geistlicher Missbrauch ist in sich fürchterlich, da er bis zum Suizid führen kann.“

Das heißt: das Thema Missbrauch ist erweitert – und zum Erschrecken wie zur Scham für alle da „drinnen“ – in der Mitte der katholischen Kirche selbst angekommen. Doch das Denken, dass da jetzt größere Dinge zu ändern sind, auch theologisch, nicht nur juristisch-disziplinarisch, setzt in dieser „Schockstarre“ erst ganz langsam ein. Vor allen Dingen: wo anfangen?