Reifes Debüt: Miku Sophie Kühmel Foto: Andreas Labes

Für den Deutschen Buchpreis nominiert: Miku Sophie Kühmel wagt sich in ihrem Roman „Kintsugi“ in den Porzellanladen unserer Gefühle.

Stuttgart - Porzellan hat im Reich der Beziehungen seine eigene Bedeutung. Wenn sich jemand wie ein Elefant aufführt, geht vieles in die Brüche. Die junge 1992 in Gotha geborene Autorin Miku Sophie Kühmel nähert sich in ihrem Roman-Debüt „Kintsugi“ dem Porzellanladen der Gefühle mit der Weisheit eines Zen-Meister. Und wenn am Ende trotzdem gebrochene Herzen und die symbolischen Scherben einer Teeschale zurückbleiben, geht dies mit einer Verheißung von Trost und Schönheit einher. Denn worauf der Titel verweist, ist eine in Japan entstandene Kunstpraxis, Beschädigungen kostbarer Gefäße nicht als Makel zu empfinden, sondern durch Goldlack noch hervorzuheben.

Auf die Lebenskunst gewendet steht dieses ästhetische Prinzip somit ungefähr für das Gegenteil des Diktats der Selbstoptimierung, was natürlich nicht heißt, dass es von dieser nicht wieder in Dienst genommen werden könnte.

„Jeder neue Riss steigert den Wert, statt ihn zu schmälern“, sinniert die junge Pega gegen Ende des Romans, zu einem Zeitpunkt, als ihr Vater schon die Scherben in Konstellationen schiebt, die ein Wochenende im Ferienhaus ihrer besten Freunde hinterlassen hat. Diese, der erfolgreiche Künstler Reik und sein Partner Max, ein Archäologe, haben sie eingeladen, um im engsten Kreis die Beständigkeit ihrer Beziehung zu feiern. Denn die beiden schwulen Mittvierziger ergänzen sich in ihrer Gegensätzlichkeit seit zwanzig Jahren zu einer Zweisamkeit, deren Stabilität und Glanz auch vielen heterosexuellen Paaren aus ihrer Bekanntschaft als Vorbild gilt.

Statt einer Mutter drei Väter

Weil sie sich nicht dafür rechtfertigen wollen, nicht geheiratet zu haben, findet die Feier in ihrem uckermärkischen Fluchtwinkel im kleinsten Kreis statt, nur mit Pega und ihrem Vater, Tonio, dem früheren Geliebten Reiks. Als Pianist hat er sich aus einer Lebenskrise in die Vaterschaft geflüchtet, und die Karriere gegen die Erziehung seines Kindes eingetauscht. Familien erweisen sich hier eher als instabile Gebilde, Väter sind abwesend, Mütter trinken oder machen ihr eigenes Ding. Bei Reik und Max hat Pega eine Ersatzfamilie gefunden, drei Väter statt einer Mutter.

Das ist die Ausgangskonstellation zu Beginn dieses Wochenendes. Man ahnt, was folgen muss. Und das hat wenig mit der sexuellen Orientierung, manches mit der Natur unseres Begehrens und sehr viel mit dem Gesetz der Gattung zu tun, auch wenn man wegen der sich rasch abzeichnenden Bruchlinien im sozialen Gefüge nicht gleich Goethes „Wahlverwandtschaften“ herbeizitieren muss. Nach einer kammerspielartigen Szene am Frühstückstisch, wie sie von der französischen Konversationskünstlerin Yasmina Reza nicht schöner an den Beginn einer langsamen Eskalationslinie gesetzt worden sein könnte, ist man auf die zu erwartenden Turbulenzen bestens vorbereitet.

Miku Sophie Kühmels Roman ist für den Deutschen Buchpreis nominiert worden. Zurecht, wenn damit nicht allein gewürdigt wird, dass die Autorin sich mit ihrer Versuchsanordnung an der Vielfalt tatsächlich gelebter Verhältnisse orientiert, sondern auch die verblüffende Fähigkeit einer 27-Jährigen, sich in das komplexe Gefühlsleben älterer Männer so hineinzufinden, dass daraus glaubhafte, innige Szenerien entstehen. Und doch liegt gerade hier auch das entscheidende Problem.

Denn anstatt den Lebensbereich, dessen atmosphärische Details sie bis in die Marken-Semantik des schicken Designer-Interieur so klar erfasst, im Handeln der Personen zu entfalten, klinkt sich die Autorin kurzerhand in den Bewusstseinsstrom ihrer Protagonisten ein. In diesem treibt dann die ganze ausladende Vorgeschichte der jeweiligen Figur breit daher und reißt die aufgebaute Spannung der konkreten Situation mit sich. Vier Lebensläufe, die sich überschneiden, verführerisch umschlingen, teilen, auseinanderfließen, aber nur mit Mühe wieder ins Bett dieses Wochenendes der Entscheidung zurückfinden.

Umgekehrter Polterabend

Es ist imponierend, was Miku Sophie Kühmel alles über ihre Figuren weiß. Umgekehrt bedeutet dies allerdings auch, dass jede einzelne davon nach der Autorin, mithin gleich klingt. Das schmälert den Effekt perspektivischen Erzählens erheblich. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass hier vier Personen einerseits Zeit miteinander verbringen und andererseits jede von ihnen dabei im Stillen noch einmal ihr ganzes Leben durchgeht. Die vielen schönen Beobachtungen, die klugen Aperçus schlagen damit in eine abstrakte Stoffsammlung um, deren Fülle zur reduktionistischen Leitsymbolik zenbuddhistischer Praktiken in markantem, aber auch ermüdendem Widerspruch steht.

Und so liegt am Ende nicht nur das vielbewunderte Lebensarrangement der komplementären Charaktere Max und Reik in Trümmern, sondern auch der Roman. Im Falle des leicht pedantischen Wissenschaftlers und des anarchischen Künstlers kann man sich über den umgekehrten Polterabend, in dem ihre Verbindung nicht beginnt, sondern ausklingt, mit Kintsuki-Kalendersprüchen von der Schönheit des Makels hinwegtrösten. Bei dem Roman aber ist es immerhin die Hoffnung auf ein großes Talent, die seine Fehler vergoldet. Termin: Am 27. Oktober ist Miku Sophie Kühmel im Literaturhaus Stuttgart zu Gast.

Miku Sophie Kühmel: Kintsugi. Roman. S. Fischer Verlag. 304 Seiten, 21 Euro.