Leben unter freiem Himmel: Flüchtlingsjunge im bosnischen Velika Foto:  

In der bosnischen Grenzstadt Velika Kladusa warten 500 Flüchtlinge in einem überschwemmten Lager auf bessere Zeiten. Der Balkanstaat droht Schauplatz einer menschlichen Katastrophe zu werden.

Sarajevo - Die nächtliche Regenflut hat nichts verschont. Schweigsam bergen übermüdete Lagerbewohner klatschnasse Decken, mit Schlamm überzogene Kleidung und verdorbene Lebensmittel aus Pfützen und Zeltruinen. Auf der aufgeweichten Flusswiese im Nordosten der bosnischen Grenzstadt Velika Kladusa hämmern schwitzende Männer Lattenverschläge, um sich und ihre Habseligkeiten mit darüber gezogenen Plastikplanen gegen die nächsten Niederschläge zu wappnen. Sein Zelt sei „komplett unter Wasser“ gestanden, berichtet der 24-jährige Omar aus dem südmarokkanischen Guelmim: „Es ist ein Chaos. Hier gibt es nichts – und funktioniert nichts.“

Seit über einem Jahr ist der Student auf einem weiten Balkanumweg in Richtung seines Wunschziels Spanien unterwegs. Erst am Vortag habe er erneut versucht, in das nahe Kroatien zu gelangen, so Omar. „Aber es ist einfach zu viel Polizei an der Grenze. Wenn die Kroaten dich erwischen, schlagen sie dich, nehmen dir das Geld ab, zerbrechen die SIM-Karte des Telefons – und bringen dich wieder nach Bosnien zurück“, berichtet der Marokkaner.

Der Nordwestzipfel des Vielvölkerstaats ist zur neuen Sackgasse auf der sich ständig ändernden Balkanroute geworden. Seit Jahresbeginn sollen über 7000 Flüchtlinge in Bosnien und Herzegowina registriert worden sein. Gut die Hälfte von ihnen ist im grenznahen Kanton Una-Sana gestrandet. Allein in Bihac wird deren Zahl auf knapp 3000 geschätzt. In Bosniens am weitesten im Westen gelegener Kommune Velika Kladusa sind es rund 500 Flüchtlinge, die in dem überschwemmten Lager auf bessere Zeiten – und die Überwindung von Sloweniens nur 70 Kilometer entfernter Schengengrenze hoffen.

Die Grenzen sind zu

Nein, froh sei niemand über die unerwünschten Grenzgänger, berichtet eine blonde Mitfünfzigerin: „Es gibt unter den Flüchtlingen wunderbare Menschen – aber auch problematische Leute.“ Viele Anwohner würden Essen und Kleidung ins Lager bringen: „Wir Bosnier haben im Krieg selbst erfahren, was es bedeutet, das eigene Heim verlassen – und fliehen zu müssen.“ Doch viele seien auch durch Einbrüche und den Tod eines im Juni erstochenen Marokkaners beunruhigt: „Es sind einfach sehr viele Menschen – und werden immer mehr. Sie kommen zu uns, weil wir am nächsten an der Grenze liegen.“

„Einfach Pech“, habe er gehabt, seufzt der Pakistani Sajjad, während er mit einem Wassergraben sein Zelt für das nächste Unwetter zu sichern sucht. Als er vor drei Monaten nach Velika Kladusa kam, sei die Route noch kaum genutzt worden: „Fast alle kamen durch.“ Doch kurz vor Sloweniens Grenze habe er sich damals in Kroatien einen Knöchelbruch zugezogen: „Ich wurde nach Bosnien abgeschoben – und lag zwei Monate in Gips.“

Inzwischen sei sein Fuß zwar wieder belastbar, doch gebe es an der Grenze kaum mehr ein Durchkommen, erzählt der 25-jährige IT-Techniker. Fünf Mal sei er bereits von kroatischen Grenzern aufgegriffen, geschlagen und abgeschoben worden. Einmal habe er es zwar selbst nach Slowenien geschafft: „Aber auch die Slowenen bringen dich seit einigen Wochen nicht mehr ins Lager, sondern schieben dich zurück über die Grenze ab.“

Vier Dixi-Toiletten und zwei Duschverschläge für 500 Menschen: Kopfschüttelnd spricht der Beobachter einer UN-Organisation von „absolut unzumutbaren und unhygienischen“ Bedingungen. Es gebe für die Bewohner des Lagers weder vom Staat noch von den UN oder der EU irgendeine Hilfe, klagt der Mann, der seinen Namen und Arbeitgeber lieber nicht nennen will. Ab September werde die regelmäßig überflutete Wiese völlig unter Wasser stehen: „Es ist eine Katastrophe. Wir behandeln die Leute wie Tiere, überlassen sie einfach sich selbst.“

Von einem „neuen Idomeni“ schreibt die slowenische Zeitung „Delo“. Doch im Gegensatz zu dem griechischen Grenzort, wo nach der Abriegelung der Balkanroute 2016 zeitweise bis zu 14 000 Menschen biwakierten, ist von den großen Hilfsorganisationen in Velika Kladusa nichts zu sehen. Zur Hilfe sind die EU und UN im Grenzgebiet zu Kroatien nicht bereit, und Bosniens dysfunktionaler Staat scheint dazu kaum fähig zu sein: Tausende von Gestrandeten sind in Westbosnien weitgehend sich selbst überlassen – und auf die Hilfe der Bevölkerung angewiesen.

Lokale Hilfsgruppen haben an die UN geschrieben

In einem Brief an die Regierung, die EU und die UN-Flüchtlingsorganisationen warnen lokale Hilfsgruppen vor einer Katastrophe für die Menschen. Der Staat bürde die Verantwortung für die Flüchtlinge „seinen verarmten und ausgelaugten Bürgern“ auf. Die UN-Organisationen würden sich ihrer Verantwortung entziehen, obwohl sie ihr Mandat zur Hilfe verpflichte. Der tatenlosen EU komme die Lage offenbar zupass: „Die Weigerung, irgendwelche Verantwortung zu übernehmen, hat dazu geführt, dass Tausende Menschen unter freiem Himmel oder dafür völlig ungeeigneten Gebäuden übernachten.“

Flüchtlingsleid im Flüchtlingsland: An den Folgen des Bosnienkriegs, der von 1992 bis 1995 wütete, hat der Vielvölkerstaat noch immer zu knabbern. Dennoch hat Sajjad neben seinem Zelt die Fahne seines unfreiwilligen Gastlands gehisst. In Velika Kladusa sei die lokale Bevölkerung, „freundlich und hilfsbereit“: „So schlecht die Lage ist: Wir lieben die Bosnier.“