Kaiserin Michiko im Kaiserpalast von Tokio: Das Foto wurde vom Hof am 20. Oktober 2017 anlässlich ihres 83. Geburtstags veröffentlicht. Foto: AFP

In einem gerade auf Deutsch erschienenen Gedichtband gibt die japanische Kaiserin Michiko Einblick in ihr Leben und japanische Traditionen. Für das traditionelle Kaiserhaus ist so viel Offenheit eine kleine Sensation.

Tokio - Das neue Jahr beginnt in Japan poetisch und früh. Viele Japaner stehen am Neujahrstag rechtzeitig auf, um die Strahlen des ersten Sonnenaufgangs auf dem Gesicht zu spüren. Im Kaiserhaus klingelt der Wecker sogar noch früher, wie Kaiserin Michiko in dem Gedicht „Vom alten zum neuen Jahr“ beschreibt: „Noch glänzen die Sterne des Alten Jahres am Himmelsgewölbe über uns. Der Morgen des Neuen Jahres bricht heran, dem zu huldigen Seine Hoheit hinausschreitet, um es mit Gebeten zu begrüßen.“

Diese Verse im Tanka-Stil, einer 1300 Jahre alten reimlosen japanischen Gedichtform, sind erstmals auf Deutsch erschienen. Der Herder-Verlag gab sie in einer Sammlung mit 50 Gedichten heraus, jeweils versehen mit eleganten Kalligrafien des kaiserlichen Beraters für Kalligrafie sowie Details über die Hintergründe. So erfährt man, dass der Kaiser und der Kronprinz am 1. Januar schon um 4.30 Uhr aufstehen, ihre Morgentoilette erledigen und Festkleidung anlegen. Danach beten sie an drei Heiligtümern auf dem Gelände des Kaiserpalastes im Zentrum der japanischen Hauptstadt Tokio – für die Gottheiten, die kaiserlichen Vorfahren und das ganze Land.

Ihre Landsleute tun es ihnen gleich, wenn auch weniger formell: Noch in der Nacht und in den Tagen nach dem Jahreswechsel besuchen Millionen von Japanern Schreine und Tempel. Sie werfen eine Münze in den Opferkasten und sprechen ein kurzes Gebet. Viele bringen im Vorjahr gekaufte Glücksbringer mit – kleine Stoffsäckchen mit Gebeten darin – und decken sich mit neuen ein.

An den ersten drei Tagen des neuen Jahres sind in Japan alle Geschäfte zu

Abgesehen davon macht Japan an den ersten drei Tagen des neuen Jahres kollektiv Pause. Alle Geschäfte sind geschlossen. Japan kommt zur Ruhe – und findet die Muße. Anfang Januar treffen sich im Kaiserpalast Dichter, darunter auch das Kaiserpaar, zum ersten Gedichtvortrag des Jahres zu einem vorher festgelegten Thema. Für 2018 lautet das Thema „go“, was Wort und Sprache bedeuten kann.

Ins Deutsche übersetzt von dem Japanologen Peter Pantzer, der an der Universität Bonn lehrte, geben die Kurzgedichte einen Einblick in das sonst weitgehend von der Außenwelt abgeschottete Leben der Kaiserfamilie. Kaiserin Michiko war die erste Bürgerliche, die in das japanische Kaiserhaus einheiratete. Damals noch Kronprinz, hatte Akihito die älteste Tochter des damals größten Nudelherstellers Asiens bei einem Tennis-Match kennengelernt. Nach mehreren Jahren, in denen er seine Eltern davon überzeugte, der Verbindung mit einer Nichtadeligen zuzustimmen, heirateten sie 1959.

Michiko hat es geschafft, am Kaiserhof Neuerungen durchzusetzen

Ist es die tiefe Liebe zu ihrem Mann oder aber eine Vorahnung der Last, die sie als Gattin des Kronprinzen zu tragen haben würde, die sich in diesen Zeilen aus den Anfangsjahren ihrer Ehe widerspiegelt? „Auf meine geöffnete Hand legte mir Seine Hoheit die Frucht eines Maulbeerbaums. Nur eine kleine Maulbeere. Aber sie wog schwer.“ Noch zehn Jahre nach der Hochzeit soll Akihitos Mutter die junge Ehefrau gegängelt haben.

Aber trotz der vielen Restriktionen am Kaiserhof – sie muss für Fahrten innerhalb Tokios zwei Wochen vorher um Erlaubnis bitten – hat es Michiko mit Hilfe ihres Mannes geschafft, Neuerungen durchzusetzen. So durfte sie ihre drei Kinder selbst stillen, die kleinen Königskinder durften bei ihren Eltern aufwachsen und in eine Schule gehen. All das war vorher nicht üblich.

Die Nähe zu ihren Kindern spiegelt sich in den Gedichten wider, die sie zu deren Geburt schrieb. Bei ihrem Erstgeborenen Naruhito, der im Februar 1960 zur Welt kam, sah sie schon früh dessen Bedeutung als Kaisernachfolger: „Es ist mein kleines Kind, und dennoch erfasst mich Ehrfurcht vor dem mir anvertrauten Schatz“. Beim zweiten Sohn ist sie ergriffen von der „Lebendigkeit und Frische, die der junge Spross verströmte“. Ihre 1969 geborene Tochter Sayako beschreibt sie als „zart wie ein Blütenblatt“.

Das Thema Freiheit zieht sich durch viele Gedichte

Auch ihre Erlebnisse auf Reisen, die sie an der Seite des Kaisers unternahm, verewigt sie durch poetische Zeilen. Sie verfasste Verse zu politischen Entwicklungen genauso wie zu Naturkatastrophen. Ein Thema, das sich durch viele ihrer Gedichte zieht, ist die Freiheit und Befreiung – ein Hinweis auf ihr eigenes Leben im „goldenen Käfig“? Sehr beeindruckt war sie vom Mauerfall in Berlin: „Diesen Morgen im Herbst werden wir immer in Erinnerung behalten. Über das Brandenburger Tor breitete ein neuer Tag sein Licht.“ Durch die Zeitverschiebung von acht Stunden im Winter brach in Japan bereits der neue Morgen an, als die Menschen in der Nacht in Berlin noch glücklich den Fall der Mauer feierten.

Das Kaiserpaar schenkte den Menschen Aufmerksamkeit und ein offenes Ohr. „Den vielen Leidenden, am Augenlicht Ermatteten, die hier ihre Heimstatt haben, möge der Wind die Düfte aller Bäume und aller Blumen bringen“, wünschte die Kaiserin früheren Lepra-Patienten in einem Sanatorium. Wenige Wochen nach dem schweren Erdbeben in Kobe 1995 schrieb sie: „Inmitten des vom Erdbeben erschütterten Gebiets begeht Ihr das Puppenfest. Ein Fest ohne Puppen.“

Ende April 2019 darf das alte Kaiserpaar in den Ruhestand gehen

Die Schönheit der Natur stellt sie deren zerstörerischen Kraft in Versen über die Katastrophe 2011 in Fukushima gegenüber: „Auf Feld und Flur sind die weißen Kreuzsternchen erblüht, die Blumen, die den Frühling begleiten, in dem so viele Menschen ohne Schuld gestorben sind“ dichtet sie im Gedenken an die rund 18 500 Tsunami-Opfer.

„Gemeinsam schreiten wir den langen Weg“ schreibt sie zu ihrem 50-jährigen Hochzeitsjubiläum 2009. Bald wird die 83-jährige Kaiserin und der 84-jährige Kaiser dieser Weg in den Ruhestand führen. Akihito hatte in einer Ansprache 2016 seinen Wunsch nach Abschied vom „Chrysanthemen-Thron“ kundgetan. Schließlich wurde eine Ausnahmeregelung getroffen. „Ich bin unermesslich erleichtert für den Kaiser, dass er nun für eine Weile friedliche Tage verleben kann“, wird Michiko zitiert. Am 30. April 2019 treten Kronprinz Naruhito und seine Frau Masako die Nachfolge an.

Gedichte ins Deutsche übersetzt und mit japanischen Kalligrafien

Das Buch mit 50 Gedichten ist im Herder-Verlag erschienen und heißt: „Nur eine kleine Maulbeere. Aber sie wog schwer“. Gedichte von Michiko, Kaiserin von Japan mit Illustrationen von Hakko Ishitobi, mit Kalligrafien und Kommentaren, 144 Seiten, ca 28 Euro (Halbleinen)

Folgendes Gedicht hat die Kaiserin im Gedenken an den Atombombenabwurf über der japanischen Stadt Hiroshima geschrieben: Fünfzig Jahre nach der Bombe/fallen auf den Boden von Hiroshima/still und sanft/Regentropfen nieder./Heute aber erfüllt des Regens Duft den Ort.