IS-Milizen haben diese Kirche in Shingal zerstört. Weitere Bilder – zum Beispiel von Michael Bume mit Amal Clooney- gibt es in unserer Fotostrecke. Foto: privat/Fatma Tetik

Im vergangenen Jahr musste Michael Blume aus Filderstadt vor allem verdauen, was er 2015 erlebt hatte. Im Auftrag des Staatsministeriums brachte er 1100 Frauen und Kinder, die in IS-Gefangenschaft geraten waren, nach Deutschland.

Filderstadt - Das Jahr 2016 war für Michael Blume aus Filderstadt ein ganz besonderes. Es fühlte sich für ihn so an wie ein neues Leben. Das hängt mit der Erfahrung zusammen, die der 40-Jährige im Jahr zuvor gemacht hatte. Das Erlebte hat er 2016 erst einmal verarbeiten müssen.

Alles begann am Morgen des 23. Dezember 2014. Als das Telefon klingelte, waren Zehra und Michael Blume in den Vorbereitungen für das Weihnachtsfest. Am Apparat: Winfried Kretschmann. Das Anliegen des baden-württembergischen Ministerpräsidenten: Michael Blume, Referatsleiter im Staatsministerium, sollte die Mission „Sonderkontingent Nordirak“ leiten. Sein Auftrag: 1100 besonders schutzbedürftige, hauptsächlich jesidische Frauen und Mädchen aus dem Nordirak nach Deutschland zu bringen. Frauen und Kinder, die nach dem Massaker an ihren männlichen Verwandten durch Schergen des Islamischen Staates verschleppt, versklavt, misshandelt und vergewaltigt worden sind.

Erst herrschte Stille, dann wurde diskutiert

Als Michael Blume an jenem Morgen vor gut zwei Jahren den Hörer weglegte, herrschte erst einmal Stille zwischen dem deutsch-türkischen Paar aus Filderstadt. In den nächsten Tagen hingegen diskutierten die beiden viel über den riskanten Einsatz. Am Ende entschieden sich die Blumes gemeinsam für das damals bundesweit einmalige Projekt. „Ich wusste, wie viel es ihm bedeutet“, sagt Zehra Blume. 2015 war die dreifache Mutter sozusagen alleinerziehend. Ihr Mann reiste mit einem selbst zusammengestellten 15-köpfigen Team 14- mal in die Region in der Nähe von Mossul im Nordirak. Unter hohen Sicherheitsvorkehrungen machte sich das Team an die Arbeit und erfuhr von den brutalen Misshandlungen, die die jesidischen Frauen in ihrer IS-Gefangenschaft erleiden mussten.

„Das jüngste Opfer war ein achtjähriges Mädchen“, erzählt Michael Blume. Das Kind und dessen Mutter wurden gemeinsam von einem IS-Terroristen vergewaltigt und gefoltert. Der Vater des Mädchens war hingerichtet worden. „Der Körper der Kleinen war übersät mit Folter- und Brandspuren“, erinnert sich Michael Blume. Eine Jugendliche hatte sich nach den Vergehen an ihr selbst angezündet, um dem Martyrium ein Ende zu setzen. Sie überlebte mit schwersten Verbrennungen und erhoffte sich durch das Sonderkontingent ein neues Leben in Sicherheit. Nicht nur sie.

Entscheidung über andere Leben

Das Team um Michael Blume musste aus den vielen traumatisierten, misshandelten und teils schwer kranken IS-Opfern 1100 Frauen und Kinder auswählen. „Diese Entscheidung über das Schicksal eines Menschen zu treffen, hat mich fast zerrissen“, sagt er. Nach bestimmten Kriterien trafen Blume, ein Psychologe und eine Vertreterin der Visa-Stelle die Entscheidung. Eine der Voraussetzungen war, dass die Opfer als behandelbar galten. Angesichts der massiven Gräueltaten habe er nachts oft wach gelegen, er habe viel gebetet und auch an Gott gezweifelt. Der Fall eines 14-jährigen Opfers brachte den gläubigen Christen an den Rand des Zusammenbruchs. „Das Mädchen sah von hinten aus wie meine Tochter, und mir wurde klar: Das könnte auch dein Kind sein.“ Trotz all dieser schlimmen Schicksale sei es wichtig gewesen, eine professionelle Distanz zu wahren, um den Opfern helfen zu können.

Im März 2015 ist die erste Gruppe nach Baden-Württemberg geflogen worden, im Januar 2016 die letzte. Die knapp tausend Frauen, darunter auch 40 Christinnen und einige muslimische Frauen, sind in speziellen Einrichtungen in 22 Kommunen untergebracht und werden medizinisch und therapeutisch begleitet. Die Kosten trägt das Land. 67 Frauen und Kinder hat Niedersachsen aufgenommen, etwa 30 sind in Schleswig-Holstein untergebracht.

Farida Khalaf ist eine der Frauen

Unter den geretteten Frauen sind Nadia Murad und Farida Khalaf, die mit ihren Geschichten an die Öffentlichkeit gegangen sind. In ihrem Buch „Das Mädchen, das den IS besiegte“ verarbeitete Farida Khalaf ihre IS-Gefangenschaft. Nadia Murad ist mittlerweile Sonderbotschafterin der Vereinten Nationen für die Würde der Überlebenden von Menschenhandel.

Seinen humanitären Einsatz bezeichnet Blume als „das härteste, aber sinnvollste Jahr in meinem Leben“. Erst als alle Mitarbeiter seines Teams wieder heil bei ihren Familien angekommen waren, sei die enorme Last von seinen Schultern abgefallen. „Da bin ich für ein paar Tage zusammengeklappt und habe schlimme Albträume gehabt“, sagt Michael Blume. „Das war eine lebensgefährliche Mission, und wir haben mehr als nur einen Schutzengel gehabt.“

Gestärkt aus dem Projekt hervorgegangen

Aus dem Projekt sei er gestärkt hervorgegangen. Sein Glaube an Gott sei unerschüttert. „Rückblickend habe ich das Gefühl, dass alles, was ich bisher in meinem Leben gelernt habe, mich auf diese Mission vorbereitet hat“, so Blume, der mittlerweile Folgeprojekte im Irak betreut. Seiner Frau und den Kindern ist er dankbar, dass sie die Entscheidung mitgetragen haben. Einen Plan B gab es nicht. Hätte sich die Familie dagegen entschieden, wäre das Projekt nicht zustande gekommen: „Ich hätte nicht mehr in den Spiegel schauen können.“

Regelmäßig besucht der Referatsleiter die Frauen und Kinder in den Einrichtungen. Die ersten Frauen haben eine Wohnung, eine Ausbildungsstelle oder Arbeit gefunden. Sie dürfen selbst entscheiden, ob sie nach Ablauf der Projektphase weiterhin in Deutschland bleiben wollen oder in ihre Heimat zurückgehen. „Bisher sind nur acht Frauen zurückgegangen“, sagt Michael Blume, „die anderen haben sich hier ein neues Leben aufgebaut“. Ein neues Leben – so hat sich auch für ihn selbst das Jahr 2016 angefühlt.