Ärzte der klinischen Anatomie in Tübingen operieren am Leichnam. So wollen sie herausfinden, welche Verbesserungen Chirurgen wirklich brauchen. Foto: Michael Latz/BioRegio STERN Management GmbH

Bei der Veranstaltungsreihe „Einschnitte – Einblicke“ der klinischen Anatomie in Tübingen zeigen Chirurgen Medizintechnikern am Leichnam, wo sie noch Unterstützung gebrauchen könnten.

Tübingen - Der Weg ins Gehirn kann beschwerlich sein. Dieses Mal führt er durch die Nase, denn der Tumor soll genau in der Hirnmitte sitzen. Mit einem Endoskop, das haarscharfe Bilder sendet, fährt der Tübinger Chirurg Oliver Betz durch eine Höhenlandschaft aus Sekret, vorbei an der knorpeligen Nasenscheidewand bis zur Keilbeinhöhle. Diese fräst er mit einem Highspeeddrill auf, räumt Knorpelteile mit einer Stanze weg und öffnet die Sicht auf die Halsschlagadern, den Sehnerv und die vordere Schädelgrube.

Heikles Terrain. Der Operateur hält inne. „Hier wird leider der Handlungsspielraum geringer“, sagt er. Mit dem Endoskop könne man zwar gut um die Ecke sehen, aber nicht operieren. Säße der Tumor in der Tiefe des Clivus, eines Knochenabhangs, müsste „der Zugang“ noch stärker erweitert werden. „Das hinterlässt eine Riesenhöhle zwischen Nase und Gehirn.“ Das Zerstörte wieder so zu reparieren, dass später kein Hirnwasser in die Nase gelangt, wäre aufwendig und zeitintensiv.

Im vollen Hörsaal der klinischen Anatomie in Tübingenzücken die Zuhörer Block und Stift. Nicht Studenten wohnen der live aus dem Instituts-OP übertragenen Reise ins Gehirn bei, sondern Medizintechniker. Sie sind für die Chirurgen, was früher die Waffenschmiede für die Ritter waren. Allerdings ist das Werkzeug der Operateure heute teilweise hochkomplex, vollgestopft mit modernster Technik und zu teuer für Schnellschüsse aus der Entwicklungsabteilung. Darum interessiert die Ingenieure auch nicht, welche Wunder die Götter in Weiß vollbringen, sondern wo es noch hapert.

Nichts für schwache Nerven

Zumal die Branche unter neuen Regularien für die Zulassung ihrer Produkte ächzt. Gerade wenn diese in der Neurochirurgie zum Einsatz kommen und damit zur höchsten Risikoklasse gehören, können laut den Fachverbänden auch schon mal zwei bis drei Jahre allein für die Zulassung verstreichen. „Das entspricht eigentlich dem durchschnittlichen Innovationszyklus in der Branche“, sagt Marcus Kuhlmann vom Verband Spectaris Medizintechnik. Anders gesagt: Das Produkt wäre zum Zeitpunkt seiner Zulassung schon wieder überholt.

Damit die Branche zumindest die Kundenbedürfnisse punktgenau trifft, hat die interkommunale Wirtschaftsförderung Bio Regio Stern gemeinsam mit der Universität Tübingen und dem Verein zur Förderung der Biotechnologie die Veranstaltungsreihe „Einschnitte – Einblicke“ ins Leben gerufen. Sie ist nichts für schwache Nerven. Beim vorigen Treffen wurden Bäuche aufgeschnitten, beim nächsten Mal ist das Herz dran.

Organe leuchten in Originalfarben

Zwar fließt kein Blut. Denn operiert wird an zu Lebzeiten gespendeten Leichnamen, auch versachlicht Präparate genannt. Dank einer jüngst vom Institut patentierten Fixierung, eine Mischung aus Mais- und Kokosölsubstanzen, wirken die Präparate aber im Gegensatz zum klassischen Formaldehyd „vor allem in Farbe und Haptik sehr lebensecht“, sagt Bernhard Hirt, der Institutsleiter, nicht ohne Stolz. So behält das Gehirn seine Wackelpuddingkonsistenz und die Schleimhäute und Organe leuchten in Originalfarben.

Heute ist der Kopf dran, der Sitz des Bewusstseins. Neurochirurgen können heutzutage in jede Hirnwindung vordringen, obwohl die Funktionsweise ganzer Hirnareale noch gar nicht bekannt ist. „Wir manövrieren uns durch die Furchen und Vertiefungen zwischen den Hirnlappen“, sagt der Neurochirurg Stephan Herlan. Außerdem gebe es Areale, die passiert werden könnten, ohne dass der Patient später in seinem Alltag eingeschränkt werde. „Auf der rechten Seite des Stirnlappens haben beispielsweise viele Menschen keine relevanten Funktionen.“

Was aber, wenn der Tumor im Gewebe eines Areals steckt, das wichtige oder noch unbekannte Funktionen erfüllt? Etwa am Hirnstamm, der uns wissen lässt, ob wir überhaupt wach sind? „Dann können wir den Tumor nur teilweise entfernen, um das Gewebe drum herum nicht zu schädigen“, sagt Herlan. „Denn auf keinen Fall darf es dem Patienten nach dem Eingriff schlechter gehen als vorher.“

Die Wunschliste der Chirurgen ist lang

Der Kopf ist aber auch der Hauptsitz der menschlichen Eitelkeit. Um keine Narben zu hinterlassen, entscheidet sich der Chirurg bei einer Kieferfraktur mit Lidriss für einen Bügelschnitt, bei dem die Schädelhaut hinter dem Haaransatz von einem Ohr bis zum anderen Ohr aufgeschnitten wird. Wie eine Folie zieht er sie bis zur Augenhöhle ab. Für den Eingriff befestigt er die gespannte Haut mit kleinen, scharfen Clips, die aus einer Pistole geschossen kommen. „Manchmal kommt kein Clip raus, manchmal fliegen sie durch die Gegend“, moniert der Kieferchirurg Michael Krimmel. Er würde sich ein zuverlässigeres System wünschen, mit dem er nicht laufend Sorge habe, dass die Clips ihn oder einen Mitarbeiter verletzen. „Das wäre mal etwas Simples, mit dem uns enorm geholfen wäre.“

Sein Kollege an Präparat drei, der sich gerade durch die Innenseite eines Auges zum Tränenweg vorarbeitet, um ein imaginäres Karzinom zu entfernen, moniert den Kabel- und Schlauchsalat um sich herum. „Ich kann kaum aufstehen“, klagt er, „ich würde stolpern“. Durch die Schläuche fließen Flüssigkeiten, da das Auge permanent gewässert werden muss. „Da würde ich mir wünschen, dass zumindest alle anderen Geräte kabellos sind. So wie diese tolle Säge.“ Er zeigt das akkubetriebene „vornehmere Baumarktmodell“, mit dem er gerade ein Stück des Siebbeins aufgesägt hat.

Innovationen dürften in Zukunft seltener werden

Die Wunschliste der Chirurgen ist lang: besseres Licht, weniger Zeitverzögerung bei der Bildübertragung, intelligente Haltearme, bessere Techniken zur Blutstillung, mehr Rücksicht auf die Ergonomie am OP-Arbeitsplatz. Einer der teuersten Wünsche kommt aus der Gehirnchirurgie. „Wir hätten gern einen Roboter, der das zeitintensive Auffräsen des Schädels in den unbedenklichen Bereichen übernimmt, dort, wo der Abstand zu den Nerven groß genug ist“, sagt der Gehirnchirurg Marcos Tatagiba. Der Operateur müsste so nur noch die Filigranarbeit übernehmen. „Wir haben bereits Navigationssysteme, wir verfügen über Frässysteme, man müsste jetzt nur noch beides zusammenführen.“

Den Medizintechnikern dürfte der Kopf schwirren. Nicht alle Wünsche werden sofort in die Tat umgesetzt. „Der am Gehirn autonom arbeitende Roboter dürfte wohl noch ein paar Jahrzehnte auf sich warten lassen“, sagt der Forschungschef Klaus Irion von der Firma Karl Storz. Zu viele Fragen, etwa zur Sicherheit und Haftung, seien noch offen. Dagegen hält Irion ein verbessertes Endoskop, mit dessen Hilfe um die Ecke operiert werden kann, für eine Idee, die zu verfolgen sich lohnt. Allerdings genüge es gerade bei Produkten für die Neurochirurgie nicht mehr, ein gewisses Marktinteresse zu sehen. „Für uns ist von größter Relevanz, in welchem Verhältnis der regulatorische Aufwand zum erwartenden Erfolg des Produktes steht.“ Große Innovationen dürften in Zukunft seltener werden – und so mancher Wunsch eines Chirurgen unerfüllt bleiben.

Körperspende für die Wissenschaft

Weiterbildung: Wer der Wissenschaft einen großen Dienst erweisen möchte, kann seinen Körper nach dem Ableben einem Anatomischen Institut zur Verfügung stellen. Dazu muss lediglich ein dreiseitiges Formular ausgefüllt werden, das jederzeit widerrufen werden kann. Hinterbliebene haben kein Recht, die Entscheidung zurückzunehmen. In Anatomischen Instituten können sich Studenten, aber auch Wissenschaftler und Ärzte sich weiterbilden.

Voraussetzung: Wer seinen Körper dem Tübinger Institut für Anatomie spenden möchte, muss aus seinem Einzugsgebiet stammen. Dieses reicht von Bietigheim-Bissingen im Norden bis nach Rottweil im Süden, von Freudenstadt im Westen bis nach Schwäbisch Gmünd im Osten. Die Spender sollten nicht extrem über- oder untergewichtig sein und alle Organe besitzen. Auch sollten sie nicht unter einer schweren Infektion oder einem Krebs gelitten haben.

Vorteile: Ein Vorteil ist, dass das Institut alle Kosten für die Bestattung übernimmt. Diese liegen ansonsten zwischen 5000 und 10 000 Euro. Nach spätestens zwei Jahren wird der Leichnam eingeäschert und auf dem Tübinger Bergfriedhof beigesetzt. Zwei Jahrzehnte lang werden die Urnengräber gepflegt. Man kann die Urne auch auf einem anderen Friedhof bestatten lassen. Weitere Informationen unter www.klinischeanatomie-tuebingen.de.