Verdienste um Europa: Der Präsident des Europäischen Parlaments Martin Schulz wird am 14. Mai mit einer der höchsten europäischen Auszeichnungen geehrt - dem Internationalen Karlspreis der Stadt Aachen Foto: dpa

Der Präsident des Europäischen Parlamentes Martin Schulz (SPD) ist unzufrieden mit der Europäischen Union und will die europäische Idee dennoch voranbringen – ein Interview über Bürgernähe und die Weltmacht Europa.

Brüssel - Herr Schulz, bei ihrem Amtsantritt 2012 haben Sie vor den Staats- und Regierungschefs gesagt, Sie wollten Europa verändern, die bisherige Politik überwinden. Was haben Sie davon erreicht?
Die Kampfansage ging nicht an die Runde der Staats- und Regierungschefs. Aber ich habe sehr wohl die gängige Methode infrage gestellt, bei der alles Gute aus den Regierungshauptstädten kommt und wenn etwas schlecht läuft, liegt es an Brüssel. Dieser Versuch, Erfolge für sich zu reklamieren und Misserfolge nach Brüssel abzuschieben, ist unehrlich. Ich glaube, es ist gelungen, diese Sicht zu verändern. Das Parlament wird heute geachtet und respektiert, es ist als vollwertiger, ernstzunehmender Partner der anderen europäischen Institutionen akzeptiert.  
Hat das Verfahren, in die Europawahl mit Spitzenkandidaten zu gehen und den Sieger dann auch wirklich als Kommissionschef durchzusetzen, dazu beigetragen?
Ja, absolut. Diese europäische Volksvertretung ist heute so stark wie sie es nie zuvor war. Dem Parlament wurde Respekt verschafft.   
Die Kluft zwischen den Regierungen Europas und den Regierten bleibt dennoch groß. Was kann man da tun?
Europa ist eine Idee. Diese Idee besteht darin, dass Staaten und Völker über Grenzen hinweg zusammenarbeiten, weil sie gemeinsam stärker sind als alleine und die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – vom Klimaschutz bis  zur Währung, vom Handel bis Außenpolitik – von keinem einzigen europäischen Land alleine bestanden werden kann. Diese Idee ist unbestritten. Das geben die Menschen überall in dieser Gemeinschaft offen zu. Aber immer weniger identifizieren diese Idee mit der EU. Idee und Realität klaffen auseinander. Jean-Claude Junger an der Spitze der Kommission, Donald Tusk an der Spitze des Europäischen Rates und ich an der Spitze des Parlamentes wollen das ändern, zeigen, dass die EU die Umsetzung dieser Idee ist.
Das klingt gut – theoretisch. Und was heißt das praktisch?
Wir müssen die EU reformieren. Dazu gehört beispielsweise die Einsicht, dass man nicht alles in Brüssel oder Straßburg erledigen muss, vor allem dann nicht, wenn Entscheidungen auf lokaler oder regionaler Ebene viel besser getroffen werden können. Je näher eine Sache beim Bürger entschieden wird, desto höher ist ihre Akzeptanz. Wenn die Menschen spüren,  dass man dies umsetzt, gewinnt man Vertrauen zurück.
Sie wollen tun, was eine Regierung tut?
Ich bin dafür, dass Aufgaben auf der Ebene wahrgenommen und gelöst werden, die dafür am besten geeignet ist. Wenn man Aufgaben von Europa zurückdelegiert, muss man die Strukturen schaffen, die die EU in die Lage versetzen, die ihr übertragenen Aufgaben auch wirklich zu lösen. Deshalb muss am Ende eines Umbaus eben auch ein konstitutionell aufgestelltes Europa stehen: mit einer Verfassung, mit einer Regierung, mit einem Parlament, das die Regierung kontrolliert. Aber das ist eine langfristige Aufgabe.
Die Realität ist eine ganz andere. Diese EU verhandelt ein amerikanisch-europäisches Freihandelsabkommen und weite Teile der Öffentlichkeit wollen das nicht, glauben stattdessen denen, die hier gar nicht im Verhandlungsprozess eingebunden sind. Es entstehen Legenden, die halten sich hartnäckig, aber den Handelnden wird nicht vertraut. Wie wollen Sie eins solche Vertrauenskrise wieder schließen?
Zunächst einmal sollten wir die, die den Auftrag zu TTIP erteilt haben, in die Verantwortung nehmen. Ich will das ganz klar sagen: TTIP ist keine Erfindung von Jean-Claude Juncker oder seinem Vorgänger José Manuel Barroso. Das Abkommen wollten die Staats- und Regierungschefs, auch die Bundesregierung. Sie haben das Mandat für die Verhandlungen erteilt. Niemand sonst. Inzwischen gibt man sich völlig zerstritten über die Ziele dieser Vereinbarung. Wir brauchen ein Maximum an Transparenz, damit niemand mehr sagen kann: Da wird verhandelt und ich weiß nicht worüber. Ich wünschte mir aber auch eine mehr an Fakten und weniger an Vorurteilen und Klischees orientierte öffentliche Debatte.
Es gibt viele Bereiche, wo Sie nicht ernsthaft mit dieser EU zufrieden sein können. Beispiel Flüchtlinge . . .
. . . ich bin in dieser Frage nicht mit der EU, sehr wohl aber mit den Mitgliedsländern absolut unzufrieden, weil sie es sind, die sich seit zwei Jahrzehnten weigern, drei Schritte zu tun: Wir brauchen ein mit einer Quote verbundenes Recht zur legalen Einwanderung. Diese Quote muss sich an verschiedenen Kriterien und selbstverständlich auch am jeweiligen Bedarf orientieren. Dann müssen wir Bürgerkriegsflüchtlingen einen zeitweisen Schutzstatus zuerkennen. Und drittens dürfen wir nicht alle, die kommen wollen, in das System des politischen Schutzes packen. Das entwertet den Charakter des politischen Schutzes, der ein hohes Gut ist, und den wir brauchen für die, die wirklich politisch verfolgt sind. Kommission und Parlament sind da seit Jahren auf einer Linie. Aber ich fürchte, dass auch die neue Migrationsstrategie der Kommission, die am 13. Mai vorgestellt wird, letztlich am Widerstand einiger Hauptstädte abprallt.  
Die Betroffenheit über den Tod im Mittelmeer reicht nicht aus, um zur Aufnahme bereit zu sein?
Der britische Premierminister hat das auf dem letzten EU-Gipfel deutlich formuliert: Ich bin bereit, Schiffe der Royal Navy ins Mittelmeer zu schicken und Menschen zu retten. Aber wir bringen sie nach Italien. Das sagt alles.
Nächstes Stichwort ist die Ukraine. Hat die EU mit allen ihren Versuchen, Abkommen abzuschließen, am Ende doch nicht genug Gewicht, um die Beteiligten zu einem Waffenstillstand und Neuanfang zu bewegen?
Ich bin fest davon überzeugt, dass die EU der Schlüssel zur Lösung des Problems ist. Der russische Präsident Wladimir Putin wird eher mit uns Europäern eine Vereinbarung treffen als mit anderen.  Unsere Sanktionen haben gewirkt und sie werden langfristig auch etwas bewirken. Es war schwer, sie zustande zu bringen, aber die einheitliche Linie war und bleibt ein großer Erfolg der europäischen Außenpolitik.  
Die Ukraine-Krise klingt ein bisschen zu sehr nach einem rein militärischen Problem. Stimmt der Eindruck?
Das ist leider richtig. Und in der Sache völlig falsch: Die Ukraine braucht keine Waffen, sondern Stabilität, Wirtschaftswachstum und die Verfestigung rechtsstaatlicher und marktwirtschaftlicher Strukturen. Kiew benötigt eine Integration in den Binnenmarkt, das Assoziierungsabkommen mit der EU, den Abbau von Handelshemmnissen und vieles andere.
Also ist Europa, das sich gerne als Weltmacht sieht, doch nicht zu schwach?
Europa ist eine ökonomische Weltmacht, die politisch hinter ihren Möglichkeiten bleibt.  Dabei könnten wir auf der Weltbühne und an den Runden Tischen, an denen Krisen gelöst werden sollen, diplomatisch mit unserem Konzept der nicht-militärischen Konfliktlösung eine Menge mehr erreichen.  Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Fast zwölf Jahre lang hat die EU am Tisch gesessen und eine zentrale Rolle gespielt, als um den Atom-Pläne des Iran ging. Ich behaupte: Dadurch wurden Kriege verhindert.  Wenn Europa geschlossen handelt und ihren Vertretern Gewicht gibt, ist es eine Weltmacht.
 
Zur Person Martin Schulz
 

1955 in Hehlrath (heute Stadt Eschweiler) geboren

1974 Eintritt in die SPD

1975 – 1976 Ausbildung zum Buchhändler, danach bis 1994 in verschiedenen Verlagen und Buchhandlungen tätig

1984 Wahl in den Stadtrat von Würselen

1987–1998 Bürgermeister von Würselen

1994 Wahl zum Abgeordneten des Europäischen Parlaments

seit 2004 Fraktionsvorsitzender der SPE, der Sozialdemokratischen Partei Europas

Seit 2012 Präsident des Europaparlaments

Schulz wird am 14. Mai mit einer der höchsten europäischen Auszeichnung geehrt. Der SPD-Politiker erhält den Internationalen Karlspreis der Stadt Aachen für seine Verdienste um Europa. (StN)