Jetzt in neuer Form: Foto: Rowohlt

Der SWR präsentiert mit „Manhattan Transfer“ das Hörspiel-Highlight des Jahres. Fünfzig namhafte Sprecher verwandeln John Dos Passos’ flirrende Großstadt-Collage in einen fesselnden akustischen Kosmos.

Stuttgart - Die Großstadt ist grausam. Gus, Milchmann im New York des Jahres 1904, weiß das: „Das Leben in der Stadt ist nicht gut“, hat er gerade noch beim Bier nach frühmorgendlicher Arbeit zum Barkeeper gesagt, um sich dann bei der Heimfahrt auf seiner Pferdekutsche ein besseres Leben als Weizenfarmer in North Dakota herbeizufantasieren. Sein Traum von der „schönen schwarzen Erde“ und dem „großen Farmhaus“ im Westen zerplatzt genau in diesem Moment so jäh wie endgültig: Eine Straßenbahn erfasst die Kutsche und reißt Gus in den Tod.

Metallenes Kreischen, hölzernes Bersten, dann frotzelt eine Trompete – es klingt wie das Fanal der urbanen Erbarmungslosigkeit, die im New York der Jahrhundertwende kulminiert. „Die Waggons, der Wallach (…), rote Häuser wirbeln und zerfallen zu Finsternis“, beschließt der Erzähler die Szene. Die Sequenz stammt aus dem ersten Teil des Hörspiels „Manhattan Transfer“ nach dem Roman von John Dos Passos. Nur wenige Minuten genügen, und schon fängt man an, Big-Apple-Bilder im Kopf zusammenzusetzen und wird unweigerlich von diesem akustischen Kosmos gefangen genommen, den der SWR, in Koproduktion mit dem Deutschlandfunk, in seinem „Hörspiel-Highlight“ des Jahres ausbreitet.

Die Sender haben dieses Stück Avantgarde-Literatur in einer fünfjährigen Mammutanstrengung in ein dreiteiliges Hörspiel überführt, das auf SWR2 am 22., 26. und 29. Mai gesendet wird; gleichzeitig kommt eine CD-Edition auf den Markt, und von 21. Mai liegt eine im Rowohlt Verlag erschienene Neuübersetzung des modernen Klassikers, die von Dirk van Gunsteren bewerkstelligt wurde, in den Buchhandlungen. Der SWR komplettiert mit dem ambitionierten Projekt eine Großstadtroman-Trilogie, die man 2007 mit Alfred Döblins „Alexanderplatz“ begonnen hatte und 2012 mit „Ulysses“ von James Joyce fortsetzte.

Er gilt als erster Großstadtroman überhaupt

Buch, Hörspiel, Hörbuch – jedes dieser Medien spreche ein eigenes Publikum an, ist sich der SWR-Chefdramaturg Manfred Hess sicher und erhofft sich eine stattliche Breitenwirkung. Mit diesem Gesamtpaket habe man vor allem die Dos-Passos-Erben in den USA, wo Hörspiele eine „terra incognita“ seien, von dem Projekt überzeugen können, inklusive der Neuübersetzung. Die Fassung von Paul Baudisch aus dem Jahr 1927 gilt als altbacken und fehlerhaft; so redeten die Figuren etwa „mit papierner Sprache und unabhängig von ihrem sozialen Stand“, so Hess.

Gleichzeitig will man mit diesem Dreiklang diesen „Meilenstein des modernen Romans“ wiederbeleben und damit nicht zuletzt dem Bildungsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gerecht werden. Tatsächlich ist „Manhattan Transfer“, bis in die achtziger Jahre viel gelesen, in den Regalen wie im kulturellen Bewusstsein immer weiter nach hinten gerutscht.

Zu Unrecht: 1925 erschienen, gilt er als erster Großstadtroman überhaupt; er ist, benannt nach einem Umsteigebahnhof in New Jersey, das Porträt New Yorks von 1896 bis 1924, die Stätte einer gierigen Jagd nach Arbeit, Glück und Macht. Der Roman, so befand der Schriftsteller Siegfried Lenz, sei die „Vision einer Auflösung aller menschlichen Beziehungen unter dem Gesetz von Metropolis“. Das Werk hat bis heute zahlreiche Schriftstellerkollegen inspiriert, die Reihe reicht von Alfred Döblin bis Paul Auster.

Manfred Hess vergleicht seine moderne narrative Struktur mit „einer über mehrere Erzählstränge verlaufenden Netflix-Serie“. Dos Passos hat eine vielschichtige, multiperspektivische Großstadt-Collage im Short-Cuts-Stil geschaffen, mit mehr als hundert Charakteren. Zudem griff der US-Schriftsteller fürs authentische Zeitkolorit zu Zeitungsschnipseln und Songtexten. Aber auch die behandelten Themen - Unterhaltungsindustrie, Technikrevolution, Migration, Klassenkampf, Frauenrechte, Abtreibung, Homosexualität – klingen alles andere als gestrig. Und die Stadt als Ort, wo Glanz und Elend sich umarmen, der eigentliche Protagonist des Romans, ist ewig aktuell.

Mit Axel Prahl, Ulrich Matthes und Ulrich Noethen

Die Hörspiel-Profis Leonard Koppelmann und Hermann Kretzschmar, die schon mehrmals als Duo am Werk waren, erstellten auf Basis von van Gunsterens Übersetzung die Hörspielfassung; Koppelmann übernahm die Regie, Kretzschmar, Mitglied des Frankfurter Ensemble Modern, die Kompositionen. Seine klangmusikalischen Miniaturen bewegen sich zwischen Jazz und Neuer Musik; an die im Roman zitierten Songs geht er nicht historisch heran, sondern arrangiert sie zeitgenössisch.

Koppelmann und Kretzschmar übernehmen in der Hörspielfassung die dreiteilige, an historischen Einschnitten orientierte Struktur des Romans, straffen aber zum Teil radikal bei Motiven, Abläufen und vor allem den Figuren, um dem Hörer so in dem vielschichtigen Geschehen die Orientierung erleichtern. Dabei an der literarischen Komplexität nicht zu rühren, um keine „Readers‘ Digest Version zu produzieren“ sei ein heikler Drahtseilakt gewesen, wie Leonard Koppelmann im SWR-Interview sagt.

Neben Gus, dem Milchmann, der von Milan Peschel gesprochen wird, treten sieben weitere Hauptpersonen auf: Maren Eggert leiht der sich emanzipierenden Ellen ihre samtweich-erotische Stimme; Ulrich Noethen gibt deren bisexuellen Ehemann die Exzentrik des Schauspieler-Bohemiens, Marc Hosemann ist der schwarze Einwanderer Congo Jake. Weiter treten etwa auf: Axel Prahl als Kriegsheimkehrer, der zum Kriminellen wird, Ulrich Matthes als ehrgeiziger Jurist, Max von Pufendorf als junger Journalist.

Fünfzig Sprecher umfasst das Ensemble für mehr als hundert Charaktere, auf der Besetzungsliste finden sich viele bekannte Namen. Den Part des Erzählers übernimmt Stefan Konarske, bekannt aus dem Dortmunder „Tatort“. Ihm gelingt es in den bildreichen Erzählblöcken, mit seiner zurückhaltenden, nüchternen, aber nie leblosen Sprechart das flirrende Geschehen zu zentrieren und dem Text einen coolen, zeitgenössischen Touch zu geben.

Ein gutes Hörspiel ist viel mehr als nur ein akustisch inszenierter Roman; es schafft eine „eigene ästhetische Wirklichkeit“, wie Manfred Hess sagt. Es lohnt sich, in die ästhetische Wirklichkeit von „Manhattan Transfer“ einzutauchen.

Sendetermine SWR 2 sendet das dreiteilige Hörspiel am 22., 26. und 29. Mai, jeweils um 18.20 Uhr; im Juni folgt die Ausstrahlung im Deutschlandfunk.

Übersetzung Das Hörspiel erscheint am 26. Mai bei Hörbuch Hamburg auf fünf CDs mit einer Laufzeit von zirka 330 Minuten. Die Neuübersetzung von Dirk van Gunsteren, auf der das Hörspiel beruht, erscheint am 21. Mai im Rowohlt Verlag. uh