Auf einer Hauswand am Hafen von Palermo prangt das Bild der 1992 ermordeten Mafia-Ermittler Giovanni Falcone und Paolo Borsellino. Foto: Almut Siefert

Die Mafia ist für die meisten Gleichbedeutend mit Schutzgelderpressung, Drogenhandel und Bestechung. Doch die mafiöse Kultur bedeutet viel mehr – sie ist weit in das Alltagsleben der Italiener vorgedrungen. Was kann der Einzelne tun, um die organisierte Kriminalität zu bekämpfen?

Palermo/Rom - Die Gasrechnung sei vor einiger Zeit gestiegen, er müsse das verstehen. „Aber das ist doch überall so, Amico“, sagt der kleine etwas untersetzte Mann und macht dabei die typische Geste, die in jedem Mafia-Film dem Zuschauer zeigt, wer in dieser Szene gerade das Sagen hat: Die Handfläche nach oben, die Spitzen von Daumen, Zeige- und Mittelfinger locker aufeinanderlegt, lässt er seine Hand auf Brusthöhe vor dem Körper ein paar Mal vor- und zurückschwingen. Die übrigen Beschäftigten des Handy-Ladens in der Innenstadt Palermos gehen derweil betont beiläufig weiter ihrer Arbeit nach. „Einmal aufladen bitte, mit 20 Euro.“ Ob man hier auch nach einer Rechnung fragen sollte?

Der Kundenbetreuer wird leicht nervös, tippt Zahlen in den Computer und murmelt etwas von ein wenig Geduld, das Schreiben werde nun ausgedruckt. „Nessun problema, kein Problem“, bietet sich doch so die Gelegenheit, dem realen Schauspiel in Hörweite unauffällig weiter beizuwohnen. Der Untersetzte hat seinem Gegenüber gerade betont freundschaftlich den Arm auf die Schulter gelegt, nimmt ihm während er ihm zum Abschied einen Kuss auf die Wange gibt die Geldscheine aus der Hand, und verschwindet wieder. Nicht ohne ein: „Bis zum nächsten Mal“ in den kleinen Ladenraum zu rufen, bevor er sich auf seinen direkt vor der Türe auf dem Gehweg geparkten Roller wuchtet und davonbraust.

2004 gründete sich die Bewegung „Addiopizzo“

„Das Phänomen der Schutzgeld-Erpressung ist leider noch immer weit verbreitet, auch wenn sich in den letzten Jahren einiges verbessert hat“, sagt Daniele Marannano. Der 33-Jährige schließt die Türe zu einem Palazzo auf. „Konfisziert von der Mafia durch die Stadt Palermo“ steht auf einem Schild neben dem Eingang. Darüber prangt das Emblem des Vereins, der hier nun mietfrei und spendenfinanziert seiner Arbeit nachgeht. Der Name ist Programm: „Addiopizzo“ heißt so viel wie „Auf Wiedersehen, Schutzgeld“.

Die Anti-Mafia-Bewegung setzt sich für Händler und Unternehmer ein, die sich nicht erpressen lassen wollen, die sich wehren gegen eine in der Gesellschaft fest verankerte Kultur. Mit der Gründung von Addiopizzo im Jahr 2004 wurde ein Tabu gebrochen. „Dass die Erpressung von Geschäften, Hotels oder Restaurants gang und gäbe war, wusste jeder. Nur gesprochen hat darüber niemand“, sagt Marannano. Am Anfang stand eine Nacht- und Nebelaktion: Aktivisten brachten an Schaufenstern der Palermer Geschäfte Aufkleber an: „Ein Volk, das Schutzgeld bezahlt, ist ein Volk ohne Ehre“, war darauf zu lesen.

Ein Netz der Solidarität soll den Einzelnen schützen

Dabei ging es nicht darum, die Händler zu denunzieren, sondern jeden einzelnen Bürger an seine Verantwortung als Konsumenten zu erinnern. „Viele denken leider noch immer, der normale Bürger könne nichts gegen die Mafia ausrichten, der Kampf gegen das organisierte Verbrechen sei ausschließlich Sache von Behörden und Polizei“, sagt Marananno und schiebt sofort hinterher: „Aber das ist falsch. Kritischer Konsum ist schon mal ein guter Weg, sich einzumischen.“ Heute klebt ein runder orangener „Addiopizzo“-Aufkleber an rund 1000 Geschäften in Palermo und Umgebung. An der Eingangstür zu dem Handyladen auf der Via Maqueda ist er nicht zu finden.

„Wir sind etwa 40 Mitarbeiter. Eine Gruppe aus Rechtsanwälten, Psychologen und auch Händlern, die in der gleichen Situation waren und nun anderen beistehen“, erklärt Marannano das Konzept. „Den Betroffenen leisten wir nicht nur Beistand beim Gang zur Polizei und vor Gericht, wir kreieren auch ein Netz der Solidarität, damit derjenige, der diese immernoch schwierige Entscheidung trifft, nicht alleingelassen und isoliert wird.“

Ein Journalist unter Polizeischutz

Alleine fühlt sich Paolo Borrometi nie. Isoliert schon. Eine Entscheidung musste auch er einmal treffen. Zwei stämmige Typen stehen links und rechts von ihm, als der 35-Jährige auf einer kleinen Piazza im Herzen Roms vor einem Café auf seine Verabredung wartet. Borrometi stammt aus Sizilien, ist in Ragusa geboren, in Modica aufgewachsen. Nach Rom ist er nicht freiwillig gezogen. Drei weitere Männer haben sich etwas weitläufiger um die Tische und Stühle verteilt und behalten den Platz im Auge.

Der Autor und Journalist recherchiert hauptsächlich über die Mafia. Durch seine Arbeit konnten bereits einige Mafiosi hinter Gitter gebracht werden. Auch nach heftigen Drohungen und Prügelattacken stellte er seine Erkundungen nicht ein. Doch seinen Einsatz, seine „Pflicht“, wie er es nennt, bezahlt er mit seiner Freiheit. Seit fünf Jahren ist eine Eskorte von fünf Sicherheitskräften rund um die Uhr an seiner Seite. Borrometi ist neben dem Gomorrha-Autor Roberto Saviano der am meisten bedrohte Journalist Italiens. Im April sollte eine Autobombe ihn mitsamt seinen Begleitern in Stücke reißen. Erst kurz vor der Durchführung waren die Pläne für das Attentat aufgeflogen.

Das Problem liege viel tiefer als die bloße Existenz der Mafia als kriminelle Organisation, sagt Borrometi. „Es ist die mafiöse Kultur, die so unterschwellig im ganzen Land verbreitet ist.“ Er zwinkert quasi im Sekundentakt, während er spricht, genau so schnell füllt sich der Aschenbecher neben ihm. „Zum Beispiel geht es bei der Arbeitssuche nicht darum, ob und was du studiert hast, sondern dass du zu den Richtigen um eine Empfehlung bittest. Oder bei der Post: Da ziehen die einen eine Nummer und warten, andere aber kennen den Angestellten hinter dem Tresen und schieben sich an der Schlange vorbei. Und das wird alles hingenommen.“ Die Italiener hätten sich über Jahrzehnte daran gewöhnt, sich umzudrehen und die Augen zu verschließen, sagt Borrometi. „Darum ist die Arbeit von Vereinen wie „Addiopizzo“ so fundamental, denn sie schaffen vor allem eines: Ein anderes Bewusstsein.“

Schon 1978 setzte die Gesellschaft ein Zeichen

Auch der Journalist ist der Meinung, es habe sich viel geändert, nach den blutigen 1980er und 1990er Jahren, nach den brutalen Anschlägen auf Politiker und Mafia-Ermittler. Es gebe nun bessere Gesetze und auch die andauernden Ermittlungserfolge und Festnahmen wirkten sich auf die Gesellschaft aus. „Aber auch heute sind leider diejenigen noch in der Mehrheit, die lieber wegschauen. Der Mafioso ist aber nicht nur der, der schießt und der andere besticht, es ist leider auch der, der das protegiert. Ob aus Fahrlässigkeit oder mit Vorsatz, aus Angst oder Bequemlichkeit: wegzuschauen heißt, die Mafia zu unterstützen.“ Viele wollten auch einfach nur ein ruhiges Leben. Unbehelligt ans Meer fahren, ins Theater oder ins Stadion gehen. Dinge, die Borrometi seit fünf Jahren nicht mehr getan hat. Er steht er von seinem Stuhl auf, geht an die Bar um noch einen Café zu bestellen - die beiden Schränke weichen ihm nicht von der Seite. Im Gegensatz zu seinen früheren Freunden. So viel kann es kosten, hinzuschauen statt wegzuschauen. Heute, im Jahr 2018.

Ein erster Wendepunkt im Verhältnis zwischen Mafia und Gesellschaft liegt an diesem Tag bereits mehr als 40 Jahre zurück. In der Nacht zum 9. Mai 1978 wird Giuseppe Impastato, genannt Peppino, in Cinisi bei Palermo ermordet. Impastato, 1948 selbst in eine Mafia-Familie hineingeboren, hatte sich politisch und kulturell gegen die Clans engagiert, einen Radiosender gegründet, über den er die Machenschaften der örtlichen Mafia laut, frech und öffentlich anprangerte. Kurz vor seiner Ermordung ließ er sich als Kandidat für die Kommunalwahl aufstellen.

Der Mafioso ist nicht der furchtlose Held aus dem Fernsehen

Noch vor der Wahl zerriss ihn eine Bombe. Er musste den Kampf gegen die Mafia wie so viele mit seinem Leben bezahlen, doch sein Begräbnis wird zum Schlüsselereignis, zum Protestzug gegen das organisierte Verbrechen. „Als der Sarg durch die Straße getragen wurde, haben die Bewohner von Cinisi ihre Fensterläden zugezogen und wie immer weggeschaut. Doch aus ganz Sizilien waren hunderte Unterstützer Impastatos angereist und verwandelten den Trauerzug in eine beeindruckende Demonstration“, erzählt Federico Varese, Professor für Kriminologie an der Universität Oxford. Die Anhänger Impastatos trugen Fahnen und Spruchbänder: „Mit den Ideen und dem Mut von Peppino werden wir weitermachen.“ Den toten Mafia-Gegner wählten die Bürger Cinisis später in ihren Gemeinderat.

„Solche Aktionen haben durchaus einen Effekt“, sagt Varese, der für seine Studien mit vielen Mafiosi in Kontakt steht. „Es ist eben nicht so wie in den derzeit so beliebten Serien wie „Gomorrha“, in denen alle furchtlose Helden sind. Nein, der Mafioso bekommt durchaus Angst, wenn er sieht, dass die Bevölkerung gegen die so genannte ehrenwerte Gesellschaft aufsteht.“

Leoluca Orlando hat in Palermo aufgeräumt

Etwas, was Leoluca Orlando bestätigen kann. Der 70-Jährige promovierte Jurist ist das Gesicht des heutigen Palermo. Des sauberen Palermo - zumindest im Vergleich zu früher. Von 1985 bis 2000 war er mit einer kurzen Unterbrechung Bürgermeister der Hauptstadt Siziliens und ist es seit 2012 wieder, auch er lebt seit Jahren unter Polizeischutz.

Nach der Ermordung des Richters Paolo Borsellino habe eine Zeitung geschrieben, er werde der nächste sein, erzählt Orlando. „Als die Frauen der Stadt das gelesen haben, haben sie der Polizei eine Liste mit Namen gebracht und gesagt: Unsere Kinder sind bereit, in Orlandos Wagen mitzufahren.“ Natürlich würde er nie ein Kind in sein Auto steigen lassen, aber die Botschaft war klar: Orlando ist nicht allein. „Später fand ich heraus, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Mafia die Mehrheit der Bosse Nein gesagt, als ihr damaliger Chef Toto Riina meinen Tod befahl. Sie sollen ihm geantwortet haben: Hast du Zeitung gelesen? Die Kinder in Palermo sind bereit, mit Orlando zu sterben. Ihn zu Ermorden ist uns zu heikel.“ Orlando schaut sein Gegenüber lange über seinen schweren Holztisch im herrschaftlichen Palazzo delle Aquile im Herzen Palermos hinweg an. „Die Liebe der Frauen und Kinder war ein stärkerer Schutz als die Panzerung des Wagens oder die Waffen der Polizisten.“